86 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
Ausland
A
ls weiter vorn Barrikaden brennen
und maskierte Demonstranten durch
die Straßen ziehen, setzt eine ältere
Dame ihre Einkaufstüten ab, um zu ver-
schnaufen. 20 Meter weiter sieht sie Poli-
zisten, die sich mit Helm und Schlagstock
zum Kampf rüsten. Steine fliegen, De-
monstranten grölen, es ist Mittwochabend
in dieser Woche in Barcelona. Die Dame
schüttelt den Kopf.
Sie sagt: »Mir geht das alles so was von
auf die ›collons‹.« Das ist ein katalanisches
Wort, man könnte es mit »Testikel« über-
setzen. Das dauernde Gerede über die Un-
abhängigkeit sei ermüdend, findet die
Dame mit den Einkaufstüten. Sie sei Se-
paratistin, aber vor allem sei sie genervt,
so wie alle Leute, die sie kenne. Sie wolle
Unabhängigkeit, aber nicht um jeden Preis.
Vor allem wolle sie endlich Ruhe.
Barcelona, Katalonien, eigentlich ganz
Spanien befindet sich im Ausnahme -
zustand, mal wieder. Am Montag hatte
der Oberste Gerichtshof in Madrid neun
Anführer der katalanischen Separatisten
zu langen Gefängnisstrafen zwischen
9 und 13 Jahren verurteilt, unter anderem
wegen Aufruhr, Veruntreuung öffentlicher
Gelder und Ungehorsam. Einige der Ver-
urteilten können vermutlich schon in we-
nigen Monaten mit Hafterleichterungen
rechnen, da sie bereits seit gut zwei Jahren
in Untersuchungshaft sitzen.
Dem Urteil folgte Wut von allen Seiten.
Die spanische Rechte fand es zu mild,
schließlich hatte die Staatsanwaltschaft bis
zu 25 Jahre Gefängnis wegen Rebellion
gefordert. Den Separatisten dagegen war
der Richterspruch zu brutal, sie sprechen
von einem Skandal. Bislang wurden bei
Unruhen Dutzende verletzt und Hunderte
Demonstranten verhaftet.
Und natürlich hat sich auch wieder Pep
Guardiola gemeldet, katalanische Natio-
nalikone und derzeit Trainer von Manches-
ter City. In einem Video kritisierte er das
Urteil scharf: »Setzt euch hin und redet«,
forderte er am Ende seines Aufrufs. Es ist
genau das, was viele Menschen in Katalo-
nien wollen – rhetorische Abrüstung, Ge-
spräche, Resultate. Keine Gewalt mehr.
Das Bizarre ist, dass das harte Urteil den
radikalen Befürwortern der Unabhängig-
keit nutzt, um Unterstützer zu mobilisie-
ren. Die meisten Katalanen sind die ewigen
Debatten über die Unabhängigkeit leid. Bei
einem Protestmarsch im September kamen
so wenige Menschen wie lange nicht mehr.
Das war vor zwei Jahren noch anders.
Damals, im Herbst 2017, ließ die Regional-
regierung ein Referendum durchführen, ob-
wohl das spanische Verfassungsgericht die
Abstimmung für rechtswidrig erklärt hatte.
Im Anschluss rief das Parlament in Barce-
lona einseitig die Unabhängigkeit aus, um
den Druck auf Madrid zu erhöhen.
Carles Puigdemont, der damalige Re-
gionalpräsident, floh kurz darauf vor der
spanischen Justiz nach Belgien, wo er noch
heute lebt. Er hat bis jetzt zwei Dinge nicht
erklärt: erstens, wie er ein Katalonien in
die Unabhängigkeit führen will, in dem
überhaupt nicht klar ist, ob die Mehrheit
der Bewohner das überhaupt möchte. Und
zweitens, wie er Madrid und Brüssel über-
zeugen will, dem zuzustimmen.
Auch wegen des Streits um Katalonien
wählt Spanien nun am 10. November zum
vierten Mal in vier Jahren ein neues Par-
lament. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
dann wieder die konservative Volkspartei
PP an die Macht kommt, also jene Kräfte,
die mit ihrer kompromisslosen Politik für
das Chaos der letzten Jahre in Katalonien
mitverantwortlich waren. Für die Separa-
tisten wäre das eigentlich ein schlechter
Ausgang – doch nicht wenige hoffen ins-
geheim, von einer erneuten Eskalation
profitieren zu können. Denn sollten die
Konservativen die Wahl gewinnen, wo-
möglich im Bündnis mit der rechtslibera-
len Bürgerpartei Ciudadanos und den
Rechtsaußen von Vox, ist eine Lösung des
Konflikts wieder ferner denn je.
Ein guter Mann, um über die Ermattung
in Katalonien zu sprechen, ist David Ros,
ein freundlicher älterer Herr, der aussieht,
wie man sich einen ehemaligen Finanz -
beamten im Ruhestand vorstellt: graue
Haare, sonore Stimme, ruhiges Auftreten.
Er wohnt in einer Wohnung 20 Minuten
von Barcelonas Stadtzentrum entfernt, im
Bücherregal steht Finanzliteratur.
Ros ist ein glühender Separatist, er
wünscht sich nichts sehnlicher als ein freies
Katalonien. »Im Grunde geht es um Sym-
bole, um eine Geste, um das Gefühl, ernst
genommen zu werden.« Er ist bei einer Ini-
tiative aktiv, die sich für die Unabhängigkeit
einsetzt. Ros, ehemaliger Finanzexperte für
öffentliche Haushalte, erarbeitet nun Kon-
zepte für einen zukünftigen katalanischen
Staat. Die Leute, sagt Ros, wollten endlich
ein Ergebnis. Das Warten, der Eiertanz, seit
Jahrzehnten schon, sei zermürbend. Wo-
möglich würde es den meisten Katalanen
inzwischen genügen, wenn ihnen Madrid
ein wenig mehr Rechte und Eigenständig-
keit zugestehen würde. Die Basken hätten
das auch hinbekommen, sagt Ros.
Im Gegensatz zu den Katalanen besit-
zen die Basken volle Budgetautonomie,
kaum eine Region hat in Europa mehr
Kompetenzen übertragen bekommen. Vie-
le Katalanen verstehen nicht, warum das
nicht auch ihnen zustehen soll.
Ros sagt: »Wenn Madrid in Sachen Fi-
nanzen und Steuern den Katalanen entge-
genkäme, würde das die Situation massiv
verändern. Die Mehrheit für die Unabhän-
gigkeit wäre vermutlich weg.« Doch Ma-
drid denke nicht in solchen Kategorien.
»Da geht es nur um Sieg oder Niederlage.
Es geht darum, den Feind zu zerstören.«
Juan Moreno
Streit ohne
Ende
SpanienNach dem harten
Gerichtsurteil gegen Separatisten
mit Haftstrafen bis zu 13 Jahren
herrschen in Katalonien
Wut und Hoffnungslosigkeit.
JASPER JACOBS / BELGA / IMAGO
Prokatalanische Demonstrierende in Brüssel: »Setzt euch hin und redet«