Rekordtief. Der damals 43-Jährige ging als
Außenseiter ins Rennen, galt vielen Beob-
achtern aufgrund seines relativ jungen Al-
ters und seiner mangelnden Erfahrung als
chancenlos. Vor einer TV-Debatte spottete
der Sprecher des damaligen konservativen
Premiers Stephen Harper, die Erwartun-
gen an Trudeau seien so niedrig, er müsse
lediglich mit Hosen bekleidet die Bühne
betreten, um diese zu übertreffen.
Trudeau übertraf nicht nur die Erwar-
tungen, er setzte neue Maßstäbe: ein jun-
ger, redegewandter, attraktiver Kandidat,
der sich als Feminist bezeichnete, dabei
»Star Wars«-Socken trug und eine progres-
sive Identitätspolitik predigte, die die Min-
derheiten des Landes in den Vordergrund
stellte. Ein Popstar der Politik, wie es ihn
in Kanada nur einmal zuvor gab: das war
Pierre Trudeau, sein Vater.
Bis heute gilt dieser als politischer Über-
vater des Landes, förderte während seiner
Amtszeit als Premier in den Siebziger- und
Achtzigerjahren den Multikulturalismus
als nationale Identität und verankerte die
Mehrsprachigkeit im Gesetz. Trudeau se-
nior löste damals die erste Welle der
Trudeaumanie aus, die seinen Sohn Jahr-
zehnte später ins Amt spülen würde. Die
Trudeaus, vergleichbar mit den Kennedys
in den USA, sind eine politische Marke –
weit über Kanadas Grenzen hinaus.
Justin Trudeau trat sein Amt mit der
Ansage an, das Land nicht nur zu mo -
dernisieren, sondern auch zu internatio-
nalem Renommee zurückzuführen. Unter
seinem Vorgänger Harper isolierte sich Ka-
nada zunehmend, kritisierte den Multila-
teralismus und trat als erstes Land aus dem
Kyoto-Protokoll aus, das die Emission von
Treibhausgasen reduzieren sollte. Trudeau
dagegen versprach eine Rückkehr ins Ram-
penlicht der Weltpolitik und stand für eine
Politik, nach der sich viele in Kanada sehn-
ten: dynamisch, weltoffen, fortschrittlich.
Schon mit seinem Kabinett setzte er ein
Zeichen. Die 30-köpfige Ministerriege um-
fasste unter anderem kanadische Urein-
wohner, Menschen mit Behinderungen,
eine afghanische Geflüchtete, einen homo-
sexuellen Mann und verschiedene ethni-
sche und religiöse Minoritäten – alles in
geschlechtlicher Parität. Auf die Frage ei-
ner Journalistin, wieso im Kabinett gleich
viele Frauen und Männer arbeiteten, ant-
wortete Trudeau: »Weil wir 2015 haben.«
Das Statement begeisterte die halbe
Welt und machte Trudeau zur neuen Licht-
gestalt. Er löste gewissermaßen Barack
Obama in dieser Rolle ab. Die Wahl erfolge
des Brexit-Lagers in Großbritannien und
Donald Trumps unterstrichen das noch.
Trudeau galt fortan als Premier des Zusam-
menhalts in einer Welt, die dabei war, sich
in ihre Einzelteile zu zerlegen.
Als Donald Trump kurz nach seinem
Amtsantritt ein Einreiseverbot für Bürger
aus einigen mehrheitlich muslimischen
Ländern verhängte, konterte Trudeau mit
einer Botschaft auf Twitter: »An diejeni-
gen, die vor Verfolgung, Terror oder Krieg
flüchten, die Kanadier werden euch will-
kommen heißen, unabhängig von eurem
Glauben. Diversität ist unsere Stärke.« Un-
ter Trudeau wuchs die Anzahl der Flücht-
linge, die nach Kanada kamen. 2018 nahm
das Land laut einer UNHCR-Statistik
28 100 umgesiedelte Flüchtlinge auf – so
viele wie kein anderer Staat.
Während Trudeau international gefeiert
wurde, mehrte sich zu Hause die Kritik.
Nicht weniger als 353 Wahlversprechen
gab die Regierung bei Amtsantritt bekannt,
doch viele davon, wie etwa die Reform
des Wahlsystems oder der Versöhnungs-
prozess mit den Ureinwohnern, versan -
deten. Vor allem aber scheiterte Trudeaus
Versprechen eines anderen Regierungsstils
an der Realität. Er wollte die Arbeit der
Regierung transparenter, demokratischer
und fairer gestalten, kündigte an, das
Durcheinander der Harper-Jahre zu besei-
tigen, bis er sich auf einmal selbst im Sog
eines Justizskandals wiederfand.
Im Februar dieses Jahres wurde bekannt,
dass Trudeaus engste Berater die damalige
Justizministerin Jody Wilson-Raybould
dazu gedrängt hatten, Ermittlungen gegen
den Baukonzern SNC-Lavalin einzustellen.
Der Konzern ist in eine Schmiergeldaffäre
verwickelt, Trudeaus Berater wollten, dass
die Justizministerin einen außergericht -
lichen Deal verhandelt, um Schaden für
die Firma zu vermeiden und Arbeitsplätze
in seinem Wahlkreis zu bewahren.
Trudeau stritt zwar ab, gegen Gesetze
verstoßen zu haben, doch ein Bericht der
Ethikkommission warf ihm Mitte August
vor, seine Macht ausgenutzt zu haben. Im
Zuge der Affäre trat nicht nur Wilson-Ray-
bould aus Protest zurück, sondern auch
die Haushaltsministerin – zwei zentrale
Stützpfeiler des Kabinetts. Bei einer spä-
teren Antwort ans Parlament sprach die
Ex-Ministerin von »unbestreitbaren Zü-
gen von Frauenfeindlichkeit« in der Dis-
kussion um ihre Person.
Der Skandal ließ den Premier nicht nur
als Politiker erscheinen, der die Interessen
der Wirtschaft über die demokratischen
Grundprinzipien stellt, sondern auch als
Heuchler, der sich gern als Feminist ver-
marktet, das Budget gendergerecht aufteilt
und eine feministische Außenpolitik pro-
pagiert, aber eine unabhängige Ministerin
kaltstellt. Trudeau verweigert bis heute
eine öffentliche Entschuldigung.
Sein Problem ist, dass er als Premier -
minister Realpolitik betreibt und damit
jene Kanadier enttäuscht, die hofften, ei-
nen Heilsbringer ins Amt zu heben. Im
Grunde kann er nur an sich selbst scheitern,
auch in der Umweltpolitik. Zwar führte er
eine landesweite CO²-Steuer ein und ver-
sichert, die internationalen Klimaziele ein-
halten zu wollen; gleichzeitig fördert er
aber die Interessen der kanadischen Öl -
industrie. Einen Tag nachdem die Regie-
rung im Juni dieses Jahres den Klima -
notstand ausrief, genehmigte sie den kon-
troversen Ausbau der Trans Mountain
Pipeline; dadurch könnte die Ölförderung
in Kanadas Ölsanden verdreifacht werden.
Bei einer Diskussionsrunde mit Studen-
ten und Schülern Ende September wurde
Trudeau mehrfach aufgefordert, das Klima
über die Wirtschaft zu stellen. »Ich bin ge-
nauso frustriert wie ihr«, sagte Trudeau
und erklärte den Klimawandel zum »wich-
tigsten Thema unserer Zeit«, konterte we-
nig später aber in die Runde, dass Klima-
schutz und eine starke Wirtschaft Hand in
Hand gingen. Sein Plan, den Klimaschutz
über die Einnahmen der Ölindustrie zu fi-
nanzieren, erscheint vielen Jugendlichen
heuchlerisch. Sie reagieren mit Kritik auf
den einst so hippen Premier. Umfragen
zeigen, dass Trudeau im Vergleich zu 2015
bei jüngeren Wählern bis zu zehn Prozent
an Zustimmung eingebüßt hat.
In vier Jahren ist Trudeau als Staatsmann
gewachsen, aber als Ikone geschrumpft. Im
Wahlkampf beweist er zwar, dass er immer
noch Massen begeistern kann, am Mitt-
woch empfahl sogar Barack Obama, Tru-
deau zu wählen. Doch die Euphorie ist ver-
pufft. Bei der Diskussion mit den Schülern
und Studenten erhebt sich ein Mädchen
dunkler Hautfarbe. Bevor sie ihre Fragen
an den Premier stellt, vergibt sie Trudeau
für die Aladin-Fotos: »Ich weiß, dass Sie
kein Rassist sind.« Zögernder Applaus er-
tönt, bevor Trudeau sich für die Worte be-
dankt. Solche Szenen wiederholen sich
nach der Veröffentlichung der Aladin- Fotos
oft. Der Premier weiß, dass er noch eine
Amtszeit braucht. Die erste war für die Ver-
sprechen, die zweite soll der Wiedergutma-
chung dienen.Max Tholl
DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019 89
Wählergunst verloren
»Sind Sie mit Premierminister
Justin Trudeau zufrieden?«
- Okt.
2019
35 %
Dez. 2015
63 %
Dez. 2017
46 %
Quelle: Online-Umfrage des Angus Reid Institute
unter in Kanada lebenden Erwachsenen