Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

M


atteo Salvini ist noch gar
nicht eingetroffen, da ist das
Theater Morelli bereits we-
gen Überfüllung geschlossen.
Men schen müssen draußen bleiben, viele
von ihnen fangen an zu diskutieren. Über
den Mann, den sie so gern gesehen hät-
ten. Über ihre Wut und ihre Hoffnung,
dass sie endlich einer aus ihrer Misere
rette.
Der Theatervorplatz im kala-
brischen Cosenza wird an diesem
Abend Ende September zur Büh-
ne Italiens. Zum Schauplatz für
ein Drama, das zurzeit das ganze
Land bewegt: Wie verkraftet Sal-
vini, der Ex-Innenminister, sei-
nen Absturz in die Opposition?
Und was stellt er an, um die
Macht zurückzuerobern?
»Salvini ist der beste Politiker Ita-
liens seit Jahrzehnten«, schwärmt
eine Frau mit schweren Ohrringen,
breiter Goldkette, knallrotem
Kleid und dem Vornamen Giselle,
»nur er kann uns retten.« Er als
Einziger im Land kümmere sich
um normale Leute, die arbeiteten,
Steuern zahlten, so wie die Men-
schen hier in Cosenza vor dem
Theater. »Italien wurde verkauft,
früher hat es produziert, jetzt ist
es in der Armut gelandet«, sagt sie.
Eine Frau mit abgewetztem
T-Shirt und vielen Sorgen im Ge-
sicht tritt mit ihrer Tochter hinzu.
»Wir haben Hunger«, sagt Pina.
Sechs Tage die Woche arbeite sie
als Gärtnerin für die Stadt, für net-
to 500 Euro im Monat. Der Ehemann
chronisch krank, der älteste Sohn arbeits-
los, die Schwiegertochter schwanger. »Sie
alle hängen von mir ab«, sagt die 51-Jäh-
rige, »aber das letzte Gehalt habe ich An-
fang August erhalten.«
Dann kommt Francesco Perrone, ein
Rentner: »Gott hat dieser Region alles ge-
geben.« Die Schönheit, die schwarzen
Trüffel und die Bergamotte-Zitrone. Aber
die Politik habe es den Bürgern wieder
genommen. Die Menschen in Kalabrien
wollten endlich wieder an etwas glauben
können, sagt er: »Wenn Salvini kommt,
dann ist er Gott.« Und drinnen, im Thea-
ter, singen die Fans, als er schließlich auf
die Bühne tritt. »Ich gebe euch mein Eh-
renwort, diese Regierung so schnell wie


möglich wieder nach Hause zu schicken«,
ruft Salvini und schimpft über Verräter,
Unfähige und Ignoranten im Kabinett.
Italien hat einen heißen Sommer hinter
sich. Matteo Salvini, 46, wollte Minister-
präsident werden und stürzte über die ei-
gene Eitelkeit und seinen Irrglauben, er kön-
ne das Land im Sturm erobern. Jetzt regiert
an seiner Stelle die Fünf-Sterne-Bewegung
(M5S) mit den Sozialdemokraten. Und der

Lega-Chef arbeitet in der Opposition rastlos
an seinem Comeback. Seit Wochen eilt er
durchs Land. Von Cosenza nach Genua,
von Mailand nach Bologna und Neapel, oft
packt er drei bis vier Auftritte in einen Tag,
zwischendurch dreht er noch Facebook-Vi-
deos, gibt Interviews im Fernsehen, besucht
Gefängniswärter oder Fischer.
Am Samstag steuert seine Kampagne
auf einen vorläufigen Höhepunkt zu. Aus
dem ganzen Land sollen seine Anhänger
dann in die Hauptstadt strömen, um als
»stolze Italiener« gegen die neue Regie-
rung zu protestieren. Die Stimmung ist auf-
geheizt. Auch im gegnerischen Lager, wo
manche – man weiß nicht, ob polemisch
oder pa nisch – schon an den »Marsch auf
Rom« erinnern, mit dem Mussolini und

seine Faschisten im Oktober 1922 die
Macht eroberten.
Als Ministerpräsident Giuseppe Conte
Anfang September sein neues Kabinett
präsentierte, sprach er von einem Sieg der
parlamentarischen Demokratie. Die Ver-
fassung, die Institutionen des italienischen
Staates hatten funktioniert, Präsident und
Parlament ihre Aufgaben verantwortungs-
bewusst erfüllt. Eine Neuwahl war abge-

wendet, die Gefahr einer europafeind -
lichen nationalistischen Lega-Regierung
erst mal gebannt. So lautet die Lesart der
linken und bürgerlichen Mitte.
Doch Salvini und seine Leute fühlen sich
betrogen. Sie sprechen von einer illegitimen
Koalition der Angst, die das Votum des Sou-
veräns scheue. »Palazzi versus Piazze«
heißt ihre Parole, die Regierungspaläste
stünden gegen den Willen der Plätze, der
Straße. Volk gegen Volksvertreter – es ist
der gleiche Konflikt, den Populisten in Wa-
shington, London oder Berlin behaupten.
In einer sehr italienischen Variante: Matteo
Sal vini wirft selbst lautstarken linken De-
monstranten lächelnd Kusshändchen zu.
Sein Machtverlust hat das Land nicht
befriedet. Italien erlebt einen Stresstest mit

92 Fotos: Caimi & Piccinni / Redux / laif

Ausland

Parteichef Salvini: »Wenn das bedeutet, Populist zu sein, ist das wunderbar«

»Nur er kann uns retten«


ItalienDemos, Facebook-Videos, Twitter-Attacken: Matteo Salvini zieht rastlos durchs Land,
in der Hoffnung auf ein Comeback – und aus Rache an der neuen Regierung.
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