Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

ungewissem Ausgang. Die Stimmung ist
nervös. Jedes Schlauchboot aus Nordafri-
ka, das an italienischen Küsten landet, je-
des Rettungsschiff mit Kurs auf Lampedusa,
jede negative Wirtschaftszahl setzt die
neue Regierung unter Druck. Weil Salvini
alles umgehend für seine Attacken nutzt.
Als sich Mitte September Frank-Walter
Steinmeier und Sergio Mattarella im
Quirinalspalast von Rom treffen, feiern die
beiden Staatspräsidenten die Versöhnung
zweier Partner, die sich seit mehr als einem
Jahr entfremdet hatten. Die Erleichterung
ist beiden in jeder Geste anzumerken.
Mattarella war es, der in zügigen Konsul-
tationen den Koalitionswechsel ermöglich-
te. Damit hat er, wie Lega-Gegner meinen,
nicht nur eine Neuwahl, sondern vielleicht
sogar einen Euro-Crash und einen Führer-
kult um Salvini verhindert. Er sei froh,


dankt ihm Steinmeier, »dass Italien wieder
auf dem europäischen Spielfeld zurück ist«.
Salvinis Name fällt nicht. Und doch ist
er allgegenwärtig. Aufmerksam verfolgen
die Parteistrategen die Umfragewerte des
ehemaligen Innenministers. Hat er seine
Karriere leichtsinnig selbst beschädigt, als
er sich auf seiner Badehosen-Mojito-Strand-
tournee (SPIEGEL33/2019) im August ver-
zockte und den Aufstieg zum Premiermi-
nister verpasste? Oder wird er als Jäger ei-
ner unsicheren Regierung stärker denn je?
Eine klare Antwort gibt es bisher nicht.
Seine persönlichen Popularitätswerte sind
leicht gesunken, aber die Lega bleibt ak-
tuell mit 33 Prozent Italiens beliebteste
Partei. Ein von Salvini geführtes Rechts-
bündnis würde bei Wahlen zurzeit gleich-


auf mit der neuen Koalition liegen. Alles
hängt davon ab, wer die Deutungshoheit
über die beiden wichtigsten Fragen erringt,
die Italien beschäftigen: das Flüchtlings-
thema und die Wirtschaftskrise.
In Genua haben sie ein großes Zelt auf
die Piazza della Vittoria gestellt. Zwei
Lega-Politiker heizen der Menge ein, »Hä-
fen zu«, »Vorrang für Italiener«, da kommt
Unruhe in den Saal: Matteo Salvini hat
das Zelt betreten.
Ältere Frauen brechen in Schreie aus,
stürzen in seine Richtung wie Teenager zu
einem Popstar, der ganze Saal jubelt,
Smartphones glimmen in hochgestreckten
Händen, endlos lange Matteo-Rufe unter-
brechen den Vortrag der Lega-Politiker
auf der Bühne.
Dann, endlich, spricht der »Capitano«,
wie ihn seine Anhänger nennen. Salvini

wirkt moderater, entspannter, seit er die
Regierung verlassen hat – mehr Main-
stream, weniger Freakshow. Die kitschige
Opernarie zu seinem Einzug, bislang ein
Klassiker bei jedem Auftritt, entfällt an die-
sem Abend. Er schwenkt nicht mit dem Ro-
senkranz, kein Gruß mehr an die Gottes-
mutter Maria, die Hetze gegen »Zigeuner«
ist verstummt.
Wie ein Comedian unterhält er zu-
nächst sein Publikum, belustigt kommen-
tiert er die jüngsten Vorschläge aus Rom,
nach einer oft erprobten Punchline: Da ha-
ben sich die Linken ja wieder etwas Ver-
rücktes ausgedacht! Buonsenso, gesunder
Menschenverstand, heißt seine Standard-
antwort. Sie funktioniert so gut wie immer.
Egal ob es um offene Häfen für Flüchtlinge

geht, um höhere Treibstoffabgaben für
arme Bauern oder neue Steuern auf Mi-
neralwasser. »Wenn die nicht an der Re-
gierung wären, wäre ihr Verhalten ja lustig,
dann könnte ich darüber lachen.« Die
Pointe ist immer gleich und zielt auf ge-
beutelte, verletzte, fremdbestimmte Italie-
ner, die angeblich seit Jahren für konfuse
Ideen der Linken bezahlen.
In manchen Momenten wirkt Salvini
wie der Therapeut einer riesigen Selbsthil-
fegruppe, nicht nur im Zelt von Genua,
sondern via Facebook-Video im ganzen
Land. Er versteht die Sorgen seiner Patien-
ten, tröstet, heilt, so lautet sein Rezept.
»Habt Geduld, habt Vertrauen«, ruft er,
»und ich bitte euch: Antwortet mit einem
Lächeln, wenn man euch beschimpft.«
Am Ende schmeißt Salvini wie ein Kar-
nevalsprinz gut gelaunt Süßigkeiten in die

Menge, bevor das Selfie-Ritual beginnt.
Zwei Stunden lang stehen seine Anhänger
Schlange, im Fünfsekundentakt werden
sie zum »Capitano« vorgelassen, bis auch
der letzte sein Foto, seine Aufmerksamkeit
bekommen hat.
Es dauerte nur wenige Jahre, bis Salvini
die Lega zur größten Partei Italiens machte.
Als er Ende 2013 deren Vorsitzender wur-
de, lag sie bei vier Prozent. Bei den Euro-
pawahlen im Mai schoss sie auf gut 34 Pro-
zent – weit vor den »Sternen«, den Sozial-
demokraten und erst recht vor Silvio
Berlusconi, dem früheren Superstar der
Rechten. Dieser Aufstieg ist der Grund dafür,
dass Salvinis Wegbegleiter ihn so verehren.
Am Morgen nach Salvinis Gastspiel
in Genua sitzt Marco Campomenosi im

DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019 93


Lega-Fans bei einer Kundgebung in Rom: »Er sagt das Gleiche wie die Leute auf der Straße«
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