Der Spiegel - 26.10.2019

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DER SPIEGEL Nr. 44 / 26.10. 2019 105

Illouz, 58, ist Professorin für Soziologie an
der Hebräischen Universität in Jerusalem
und lehrt an der Elitehochschule École des
Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
In Deutschland wurde sie mit ihrem Buch
»Warum Liebe weh tut« bekannt. Gemein-
sam mit dem spanischen Psychologen Ed-
gar Cabanas hat sie nun in einem Essay
die psychologische Wissenschaft vom Glück
analysiert – und scharf kritisiert*.


SPIEGEL: Frau Professorin Illouz, was kann
man dagegen haben, wenn Menschen ver-
suchen, glücklich zu werden?
Illouz:Wir haben absolut nichts gegen
Glück! Glück ist ein Markenzeichen mo-
derner Moral und steht im Mittelpunkt
von Politik. Das Streben danach ist in der
amerikanischen Unabhängigkeitserklä-
rung verankert. In unserem Buch untersu-
chen wir nicht das Glück im Privaten, son-
dern, wie es in der Politik instrumentali-
siert wird. Wir kritisieren eine neue Art
von Wissenschaft des Glücks.
SPIEGEL: Welche Wissenschaft ist das?
Illouz:Es ist eine Mischung aus Psychologie
und Ökonomie. Vor etwa 20 Jahren erklärte
der US-amerikanische Psychologe Martin
Seligman, er werde die Psychologie revolu-
tionieren, weil sie sich fälschlicherweise nur
auf die Schwächen der Menschen und nicht
auf ihre Stärken konzentriert habe. Er wolle
Wissen darüber vermitteln, wie man glück-
licher werden könne, eine neue Psychologie
schaffen, die in allen Bereichen der Gesell-
schaft angewendet werden sollte. Die soge-
nannte positive Psychologie.
SPIEGEL: Was finden Sie daran problema-
tisch?
Illouz:Diese Wissenschaft stellt sich un-
mittelbar in den Dienst so ziemlich jeder
Institution, die ein Interesse daran hat, die
Stimmung und das Verhalten von Men-
schen zu kontrollieren. Militär, Unterneh-
men, Staaten. Außerdem sind ihre Metho-
den fehlerhaft.
SPIEGEL: Inwiefern?
Illouz:In den 20 Jahren ihres Bestehens
wurden mehr als 64 000 Studien durchge-
führt. Die haben jedoch nur vereinzelte,

Das Gespräch führte die Redakteurin Kerstin Kullmann.
* Edgar Cabanas, Eva Illouz: »Das Glücksdiktat – und
wie es unser Leben beherrscht«. Suhrkamp; 242 Seiten;
15 Euro.

mehrdeutige und sogar widersprüchliche
Ergebnisse erzielt. Positive Psychologie
hat methodische Mängel und arbeitet oft
mit übertriebenen Verallgemeinerungen.
Außerdem ist unklar, wie und ob sie Men-
schen wirklich hilft.
SPIEGEL: Sozialwissenschaftler sagen,
Glück sei eine der wenigen Größen, die
sich relativ einfach messen lassen. Einfa-
cher als zum Beispiel politische Überzeu-
gungen. Weil die Leute in der Regel sehr
gut wissen, ob sie glücklich sind oder nicht.
Illouz:Das würde ich bestreiten. Kogni -
tionspsychologen wissen, dass Glück im
Gegenteil sogar sehr schwer zu messen ist.
Menschen sind sich normalerweise nicht
im Klaren darüber, wie sie ihr eigenes
Wohlbefinden einschätzen sollen. Wir nei-
gen zum Beispiel dazu, vergangene Ereig-
nisse viel positiver zu bewerten, wertvoller,
als zu dem Zeitpunkt, als wir sie erlebt ha-
ben. Andere Untersuchungen zeigen, dass
wir oft nicht wissen, wie schmerzhaft oder
erfreulich eine Erfahrung für uns war.
SPIEGEL: Sie trauen also keiner Glücks -
erhebung?
Illouz:Nicht nur, dass es schwer ist, das
Glück des Einzelnen zu messen. Es wird
so gar das Glück zwischen Ländern ver -
glichen – es ist aber vollkommen absurd,
internationale Vergleiche für Kategorien
anzustellen, die für Menschen in verschie-
denen Ländern ganz unterschiedliche Be-
deutungen haben.
SPIEGEL: Die Skandinavier, in deren Län-
dern Gleichheit und Gerechtigkeit großge-
schrieben werden, gehören regelmäßig zu
den glücklichsten.
Illouz:Aber die Franzosen rangieren nor-
malerweise überhaupt nicht weit vorn – da-
bei leben sie in einem der besten Wohlfahrts-
staaten der Welt. Oder nehmen wir Israel:
Das Land wird oft als ziemlich glücklich ein-
gestuft, leidet aber mit unter der größten so-
zialen Ungleichheit in der industrialisierten
Welt. Wir leben mit besetzten Gebieten und
in ständig schwelender Kriegsgefahr. Die
Forscher fragen für ihre Studien auch nach
so trivialen Dingen wie dem Wetter und ob
die Leute es gern sonnig mögen. Vielleicht
denken die Befragten dabei auch, sie sollten
sich als glücklich bezeichnen. Ich bezweifle
sehr, dass das, was gemessen wird, eine
Reak tion auf eine objektive Realität ist.

SPIEGEL:Wofür sind die Studien dann
gut?
Illouz:Glücksökonomen und einige Staa-
ten freuen sich darüber, eine neue Katego-
rie in die politischen Analysen einführen
zu können: Wo sie einmal gesellschaftliche
Kosten und Nutzen in Geldeinheiten ge-
messen haben, messen sie jetzt in Glücks-
einheiten.
SPIEGEL:Inwiefern ist das ein Problem?
Illouz:Glücksindizes lenken von anderen
Problemen ab. Zum Beispiel von sozialer
Ungleichheit, Bildungsdefiziten oder Pro-
blemen im Gesundheitssystem. 2010 er-
klärte der britische Premierminister David
Cameron, kurz nachdem er die größten
wirtschaftlichen Einschnitte in der jünge-
ren Geschichte des Landes angekündigt
hatte, dass Großbritannien das Glück als
nationalen Fortschrittsindex annehmen
solle. Er sagte, die Briten sollten den Fort-
schritt des Landes nicht daran messen, wie
stark die Wirtschaft wächst, sondern daran,
wie sich ihr Leben verbessert. Politiker er-
kannten schnell: Es ist viel einfacher, die
individuellen Glücksgefühle zu manipulie-
ren, als die Struktur von Eigentum oder
Ungleichheit zu ändern.
SPIEGEL:Und so spielt die Politik der Wirt-
schaft in die Hände, wenn sie die Wissen-
schaft vom Glück fördert?
Illouz:So ist es. Nehmen Sie das Beispiel
von Soziologen wie Jonathan Kelley und
Mariah Evans. Sie behaupten, dass Öko-
nomen falschlagen, die sich jahrelang den
Kopf darüber zerbrochen haben, wie man
den Kuchen besser verteilt. In Wahrheit
müsse man sich ums Glück der Menschen
kümmern. Sie behaupten sogar, dass Län-
der, die ungleicher sind, glücklicher sein
können. Für sie gilt das übrigens nur für
Entwicklungsländer, was wirklich empö-
rend ist.
SPIEGEL:Wie kommen die Forscher da-
rauf?
Illouz:Ungleichheit gebe den Menschen,
wie die beiden sagen, einen Hoffnungsfak-
tor. Wer danach strebe, aus eigener Kraft
besser zu werden, werde glücklicher, als
wenn der Staat hilft. Die Hilfe hindere die
Menschen daran, aus sich heraus die not-
wendige Belastbarkeit zu entwickeln.
SPIEGEL:Das klingt ziemlich herablas-
send.

Wissenschaft

»Glück wurde zu einer Ware«


SPIEGEL-GesprächDie Soziologin Eva Illouz über die revolutionäre Kraft


des Zorns, den fatalen Zwang zum positiven Denken – und
darüber, wie ein Heer von Psychologen und Trainern uns dies beibringen will
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