Der Spiegel - 26.10.2019

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Illouz: Es illustriert jedenfalls klar die Tat-
sache, dass einige Regierungen gar nicht
erst versuchen, für mehr soziale Gleichheit
zu sorgen – und sich nicht einmal mehr
dafür rechtfertigen müssen. Denn das wür-
de die Menschen ja gar nicht glücklicher
machen. Wenn wir das Glück als absoluten
Wert anerkennen, kann das in einem
nächsten Schritt bedeuten, dass wir ihm
Werte wie Gleichheit oder Gerechtigkeit
unterordnen. Sollten wir das? Natürlich
nicht. Diese Werte sind absolut!
SPIEGEL:Wie zeigt sich dieses Denken in
der Politik?
Illouz:Wer ist für was verantwortlich –
das ist eine zentrale politische Frage. Was
die positive Psychologie geschafft hat, ist,
diese Verantwortung vollständig auf den
Einzelnen zu schieben. Der ist für sich
selbst und für die Verbesserung seines
Schicksals verantwortlich. Das ist die pure
Ideologie des Neoliberalismus. Glück
dient als neuer Weg, diese Politik
zu legitimieren und umzusetzen.
Sie muss nur einen Weg finden,
den Menschen mit seinem Schick-
sal zu versöhnen.
SPIEGEL:Wie sehr hat die positive
Psychologie unser Leben verän-
dert?
Illouz:Als Seligman mit seiner For-
schung begann, waren vor allem
große Konzerne und konservative
Stiftungen interessiert, ihn finanziell
zu fördern. Später wurde er von der
US-Armee mit einem Budget von
sagenhaften 145 Millionen Dollar
angeworben, um einen widerstands-
fähigeren Soldaten zu schaffen. Ei-
nen, der kein Trauma erleidet,
wenn er tötet oder den Tod eines
Kameraden miterlebt. Dann gab es
eine riesige Nachfrage von Men-
schen wie Ihnen und mir, die in ei-
ner zunehmend unsicheren Welt in
sich selbst investieren wollten.
SPIEGEL: Wie wird diese Nachfrage von
der Glücksbranche bedient?
Illouz:Viele sogenannte Glückswissen-
schaftler verstehen sich eigentlich als Un-
ternehmer. Sie gründen Institute für Glück,
halten Seminare ab, schreiben Bücher. Die
Coaching-Branche, die zusammen mit der
positiven Psychologie entstand, macht heu-
te viele Milliarden Dollar Umsatz. Glück
wurde zu einer Ware, die auf dem Markt
gehandelt wird.
SPIEGEL: Die entscheidende Frage ist für
viele doch: Funktioniert es? Können wir
glücklicher werden?
Illouz:Nehmen Sie das Programm, das Se-
ligman für die US-Armee eingerichtet hat.
Im Großen und Ganzen ist es gescheitert.
Es sollte die positive Einstellung der Sol-
daten verbessern – aber der Erfolg war
sehr gering. Man könnte einwenden, das
lag daran, dass die Soldaten mit zu extre-


men Situationen konfrontiert sind. Die da-
hinterstehende Forderung aber lautete,
sich gar nicht erst traumatisieren zu lassen,
weil das etwas mit Schwäche zu tun hätte.
Das zeigt, wie die positive Psychologie ei-
nen neuen, einen höheren Druck aufbaut.
SPIEGEL:Welcher Art?
Illouz:Fröhlicher, glücklicher, zufriedener
zu sein. Seine Traumata zu überwinden.
Glück ist ein Statussymbol, ein Zeichen
für Erfolg. Das erzeugt fast zwangsläufig
ein Gefühl der Unzulänglichkeit.
SPIEGEL: Weil man nie glücklich genug
sein kann?
Illouz: Die Glückswissenschaft stigmati-
siert negative Gefühle wie Zorn, Wut oder
Hoffnungslosigkeit. Übrigens können viele
dieser vermeintlich negativen Gefühle ein
Mittel zur Veränderung sein. Die Frauen-
bewegung war erfolgreich, weil sie von
Zorn, und nicht, weil sie von Glück ange-
trieben wurde.

SPIEGEL: Und doch gehen wir heute offe-
ner mit psychischen Problemen um.
Illouz:Ja, natürlich. Wir diskutieren psy-
chische Gesundheit und psychische Er-
krankungen zu Tode! Wir wollen alle nor-
mal sein und argwöhnen alle, dass wir es
vielleicht doch nicht sind. Glück wird mit
psychischer Gesundheit gleichgesetzt. Ein
ganz normaler Mensch, ein gesunder
Mensch hat glücklich zu sein. Wenn Sie
also unglücklich sind, sind Sie nicht ge-
sund. Doch positive Psychologen sagen
Ihnen, dass es in Ihrer Macht stehe, das
zu ändern.
SPIEGEL: An manchen Schulen wird
Glück, Achtsamkeit oder Resilienz gelehrt.
Profitieren Kinder davon?
Illouz:Möglicherweise kann man von so
einer Art Training profitieren. Es ist eine
gute Sache, armen oder benachteiligten
Kindern Resilienz beizubringen.

SPIEGEL:Eine positive Erscheinungsform
der positiven Psychologie?
Illouz: Man muss es globaler verstehen:
Dieses Glücksverständnis löst letztendlich
jede Vorstellung davon auf, wie sehr wir
von unserer sozialen Klasse eingeschränkt
werden. Es stellt das Individuum und seine
Fähigkeiten in den Mittelpunkt und will
uns beweisen, dass wir unsere Herkunft
jederzeit überwinden können. Das soge-
nannte posttraumatische Wachstum – ein
Konzept der positiven Psychologie –
schlägt vor, das Trauma nicht nur zu über-
winden, sondern daran zu wachsen.
SPIEGEL:Stärkt es nicht trotzdem den Ein-
zelnen?
Illouz:In gewisser Weise, aber ich glaube
nicht sehr an diese Ermächtigung. Es ist
eher eine neue Kunst, den Menschen klar-
zumachen, dass sie ihr Schicksal akzeptie-
ren sollen. Ich glaube an die Fähigkeit von
Gruppen, das Schicksal von Individuen zu
verändern. Wenn man Frauen ge-
sagt hätte: Seid belastbar, wachst
an euren Traumata, wachst an Ver-
gewaltigung und Demütigung – wir
hätten niemals eine feministische
Bewegung gehabt. Kollektive Be-
wegungen entstehen dadurch, dass
das Leid nicht privat bleibt. Da-
durch, dass es ernst genommen
wird – von einem selbst und von
anderen. Positive Psychologie
nimmt Leiden, jede Art von Lei-
den, nicht ernst.
SPIEGEL:Nach all den kritischen
Untersuchungen zum Glück: Was
macht Sie glücklich?
Illouz: Ein Abendessen, das ich für
meine Freunde und meine Familie
gekocht habe; sich verstanden zu
fühlen; ein tiefgründiges Buch zu
lesen. Aber für mich ist Glück kein
Zustand, der mein Wesen definiert.
Für mich ist es wichtiger, das Ge-
fühl zu haben, dass das, was ich tue,
von Bedeutung ist. Der Versuch, etwas
über die Welt zu verstehen und dieses Ver-
ständnis mit anderen zu teilen, ist für mich
von großer Bedeutung. Das ist für mich
sinnstiftend.
SPIEGEL:Was Sinn stiftet, muss nicht im-
mer glücklich machen.
Illouz:Manchmal ist es umgekehrt. Man
kann ziemlich unglücklich sein, während
man etwas Sinnvolles tut. Fragen Sie jeden,
der Kinder hat. In der Kindererziehung
fühlt man sich manchmal ziemlich elend,
dennoch ist sie äußerst sinnstiftend. Soll-
ten wir also aufhören, Kinder zu bekom-
men, weil es uns weniger glücklich macht?
Natürlich nicht. Glück und Sinnhaftigkeit
sind unterschiedliche Wege, wie die Welt
uns belohnt.
SPIEGEL:Frau Professorin Illouz, wir dan-
ken Ihnen für dieses Gespräch.

106 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26.10. 2019


Wissenschaft

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Vater mit Tochter: »Wie die Welt uns belohnt«
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