Der Spiegel - 26.10.2019

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D


as Menetekel steht an die Wand ge-
schrieben: ein grauer Streifen auf
gelblichem Hintergrund, ein bis
zwei Handbreit Ton, in einem Kalkstein-
stollen nicht weit vom niederländischen
Maastricht.
Dieser graue Streifen erzählt die Ge-
schichte einer der schlimmsten Katastro-
phen, die den Planeten Erde je heimge-
sucht haben. Denn die Ablagerungen stam-
men aus jener Zeit, als 8500 Kilometer
weiter westlich ein gigantischer Asteroid
auf die Erde krachte. Die unvorstellbare
Wucht des Einschlags ließ Abermillionen
Tonnen schwefelhaltiges Gestein verdamp-
fen – ein endzeitlicher Regen aus Schwefel-
säure prasselte auf die Erde und versauerte
die Ozeane. Mehr als 75 Prozent aller Ar-
ten weltweit wurden damals ausgerottet,
darunter auch die Dinosaurier.
Was die Sache unheimlich macht: Der
Blick, den das Sedimentgestein in dem nie-
derländischen Stollen freigibt, öffnet sich
nicht nur in Richtung auf eine viele Jahr-
millionen zurückliegende Vergangenheit,
sondern auch in Richtung Zukunft. Der


Ökokollaps könnte sich womöglich wie-
derholen – und das schon bald.
Aufgedeckt hat dies der britische Geo-
wissenschaftler Michael Henehan. Für ihn
begann es damit, dass er sich auf einer
Fachkonferenz in den Niederlanden für
die Teilnahme an einer Exkursion zum
Stollen unter dem Geulhemmerberg ein-
schrieb. Die örtlichen Kollegen hatten ver-
sprochen, den Gästen eine geologische
Schichtabfolge zu zeigen, an der sich das
Massensterben vor rund 66 Millionen Jah-
ren detailliert studieren lasse.
Henehan war begeistert. »Das war ge-
nau das, wonach ich gesucht hatte.« Er zö-
gerte nicht lange: Hastig stopfte er sich die
mitgebrachten Lunchpakete in die Jacken-
taschen und füllte die Provianttüte mit Se-
diment, das er von den Höhlenwänden
kratzte. Bepackt mit vier Kilogramm Kalk-
und Tongestein, verließ er die Höhle.
Zurück im Labor der amerikanischen
Yale-Universität machte sich Henehan da-
ran, seine Beute zu analysieren. Ihm stand
eine enorme Fleißarbeit bevor, denn um die
erdgeschichtliche Katastrophe nachzeichnen
zu können, musste der Forscher sogenannte
Foraminiferen aus dem Gestein isolieren.
Tausende dieser gehäusetragenden Einzeller
fischte er unter dem Mikroskop aus dem
Substrat. Dann knackte er ihr Gehäuse be-
hutsam auf, um die Zusammensetzung der
Kalkschalen bestimmen zu können. Über
Jahre zog sich die Sortierarbeit hin, nachts
träumte Henehan von Foraminiferen.
Im Fachblatt »PNAS« präsentiert er
nun, was er herausgefunden hat: Die ab-
rupte Versauerung unmittelbar nach dem
Asteroideneinschlag trug Henehan zufolge
maßgeblich zum Absterben des Lebens in
den Meeren bei.

Um den Säureschock nachzuweisen, be-
diente Henehan sich des Elements Bor. Es
lagert sich in geringen Mengen in der Kalk-
schale der Foraminiferen ein. Indem der
Forscher die relative Häufigkeit der Bor-
Isotope bestimmte, konnte er auf den Säure -
gehalt des Meerwassers schließen.
So rekonstruierte Henehan das Drama
der Ozeane: Innerhalb eines erdgeschicht-
lichen Augenblicks sank der pH-Wert des
Wassers um mindestens 0,25 – stark ge-
nug, um den Kalk in den Schalen und Ge-
häusen vieler Meeresbewohner aufzulö-
sen. Rasch waren mehr als 90 Prozent aller
schwimmenden Foraminiferen-Arten ver-
schwunden. Die Ammoniten, die mit ihren
oft prachtvoll geformten Gehäusen die
Meere der Kreidezeit beherrscht hatten,
wurden vollständig ausgelöscht.
Und was hat all das mit der Gegenwart
zu tun? »Möglicherweise mehr, als uns lieb
sein kann«, sagt Henehan, der inzwischen
am Deutschen Geoforschungszentrum in
Potsdam arbeitet. Denn auch heute ver-
sauern die Ozeane. Das durch Schornstei-
ne und Auspuffe ausgestoßene Kohlen -
dioxid löst sich im Meerwasser und bildet
dort Kohlensäure.
Schon jetzt ist der pH-Wert global um
fast 0,1 gesunken; und wenn es nicht ge-
lingt, die CO²-Emissionen zu beschränken,
könnten es bis zum Ende dieses Jahrhun-
derts 0,3 werden – der Säureschock wäre
damit vergleichbar mit jenem zur Zeit des
großen Artensterbens.
Reicht das, um einen Kollaps des mari-
nen Ökosystems auszulösen? Nein, glaubt
der Erlanger Paläontologe Wolfgang Kieß-
ling. »Die Verhältnisse am Ende der Krei-
dezeit unterscheiden sich fundamental
von den heutigen«, sagt er. »Heute haben
wir es mit einer globalen Erwärmung
zu tun.« Damals hingegen sei die Erde ab-
gekühlt.
Henehans Co-Autorin Pincelli Hull von
der Yale-Universität hält es trotzdem für
denkbar, dass das Ökodesaster in den Mee-
ren bereits begonnen habe – auch wenn
es schwierig sei, die Umstände vor 66 Mil-
lionen Jahren mit den heutigen zu verglei-
chen. Zumal nach dem Asteroiden-Crash
Ausnahmezustand auf der Erde herrschte:
Feuerstürme walzten Wälder nieder, Tsu-
namis rasten durch die Ozeane, Staub ver-
dunkelte die Erde. Aber auch heute sei das
Meer vielfältigen Stressfaktoren ausge-
setzt, argumentiert Hull. »Es kommen
Überfischung, Überdüngung, Erwärmung
und Verschmutzung zusammen.«
Die Versauerung könnte unter all diesen
Faktoren als besonders starke Triebkraft
des Niedergangs wirken. »Damals hat sie
das Ökosystem in eine Abwärtsspirale hi-
neingetrieben«, sagt Hull. 100 000 Jahre
habe es gebraucht, sich zu erholen.
Johann Grolle

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Regen des


Todes


GeologieForscher enthüllen, wie
eines der größten Artensterben
seinen Lauf nahm: mit einer
Versauerung der Ozeane. Bald
könnte es wieder so weit sein.

STEVE LOWRY / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Meeresbewohner Foraminiferen (Gehäuse):Rasch waren mehr als 90 Prozent verschwunden

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