Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

I


m VW-Werk von Zwickau, zehn Ki-
lometer nördlich der Stadt, wo die
Ortschaften Schlunzig, Mosel und
Wulm heißen, wird in einer Woche,
am 4. November, Geschichte geschrieben.
Wer die mit blauen Rolltoren verschlos-
sene Halle in jüngster Zeit besuchen
durfte, betrat eine geheime Welt, ein ver-
stecktes Industrielabor, zu dem nur weni-
ge VW-Mitarbeiter Zugang hatten. Oran-
gefarbene Roboter spulten im »Ghost
Run«, im Testbetrieb, ihre hochkomple-
xen Programme ab, und gemeinsam fer-
tigten Menschen und Maschinen jeden
Tag acht Elektroautos namens ID.3, zur
Probe. Nun beginnt, am 4. November, die
Serienproduktion. Und es ist, je nach Per-
spektive, der Beginn oder das Ende einer
Epoche.
1500 Elektro-Volkswagen sollen in Sach-
sen künftig täglich vom Band laufen, ins-
gesamt 330 000 Fahrzeuge jedes Jahr, im
dann, laut VW, »größten und leistungsfä-
higsten Elektroautowerk Europas«. Das
neue Auto ID.3, kompakte Mittelklasse,
soll nach dem Willen seiner Schöpfer eine
Ikone des 21. Jahrhunderts werden, wie
VW Käfer und VW Golf in ihren Tagen
welche waren. Das ist Werbelyrik, gewiss,
aber es ist selbst aus neutraler Perspektive
schwer, die Bedeutung des Vorgangs zu
überschätzen: Volkswagen läutet in Zwi -
ckau die Totenglocke für den Verbren-
nungsmotor. Von 2040 an will VW kein
Benzin- oder Dieselauto mehr herstellen.
Es ist das Ende einer Epoche.
Sie hat, aufs Ganze gesehen, mehr als
hundert Jahre gedauert, und sie war groß.
Deutsche Erfinder und Ingenieure haben
sie entscheidend geprägt, mutige Unter-
nehmer, visionäre Designer und hoch kom-
petente Facharbeiter. Es war eine Epoche,
in der deutsche Automobile weltweit zum
Inbegriff für beste Wertarbeit wurden;
eine Zeit, in der Volkswagen, Mercedes-
Benz, BMW, Porsche und Audi zu Bot-
schaftern Deutschlands, zu globalen
Prestigeobjekten wurden und ihre feinst
abgestimmten Motoren zu Mustern indus-
trieller Exzellenz. Das deutsche Auto galt
zeitweise als »das Auto« schlechthin, aus-
gestattet mit einem ewigen »Vorsprung
durch Technik« made in Germany.


Männer wie Eberhard von Kuenheim,
der den Grundstein für die Erfolge von
BMW legte, Ferdinand Piëch, der erst
Audi, dann VW groß machte, oder Wen-
delin Wiedeking, der Porsche rettete und
in ungeahnte Dimensionen katapultierte,
waren für die deutsche Wirtschaft das, was
Bill Gates, Steve Jobs und Jeff Bezos heute
für die US-Industrie sind: Helden.
Natürlich gab es, in all den Jahren, im-
mer auch Bedenken. Ölkrisen, Benzin-
preisschocks, Ärger mit schlechter Luft in
den Städten, die Plage der Staus, Streit um
Tempolimits. Im Laufe der Achtzigerjahre
begann das Nachdenken über die Zusam-
menhänge von Ökonomie und Ökologie,
in den Neunzigern forderten die Grünen,
von aller Welt verlacht, dass der Preis für
einen Liter Benzin der Umwelt zuliebe auf
fünf Mark steigen müsse.
Nun hat, seit Beginn des neuen Jahrtau-
sends, die Furcht vor dem Klimawandel
steile Karriere gemacht und mit ihr der
Gedanke, dass es womöglich Irrsinn ist,
dass sich der Mensch in tonnenschweren
Kisten fortbewegt, in denen fossile Brenn-
stoffe verfeuert werden.
Und trotzdem dachte die deutsche Au-
tomobilindustrie bis vor Kurzem nicht,
sich radikal ändern zu müssen. Sie glaubte,
vorneweg Volkswagen, das Problem auf
zwei Wegen beheben zu können: zum
einen durch immer bessere, schadstoff -
ärmere, effizientere (Diesel-)Autos und
zum anderen, als auf diesem Weg nichts
mehr herauszuholen war, durch Betrug
oder Realitätsverweigerung.
So paradox es klingt: Ausgerechnet Die-
selgate hat den nötigen Modernisierungs-
schub ausgelöst. Das Vertrauen in die In-
dustrie wurde derart erschüttert, dass auch
Vorstände und Aufsichtsräte die Unver-
meidlichkeit eines radikalen Schwenks er-
kennen mussten.
Doch diese Erkenntnis kommt reichlich
spät. Aus den Vorreitern des vergangenen
Jahrhunderts könnten schon bald die zum
Scheitern verurteilten Nachzügler der neu-
en Zeit werden, mit allen Folgen, die das
für die deutsche Wirtschaft und unseren
Wohlstand hätte. Es wäre der Beginn einer
neuen, ungemütlichen Epoche. Denn wäh-
rend die Deutschen ihre Diesel manipu-

lierten und auf immer größere SUV setz-
ten, während sie alternative Antriebe zwar
studierten und erprobten, aber nur halb-
herzig verfolgten, während die Hersteller
lieber mit Eifer Argumente gegen das au-
tonome Fahren sammelten, statt es einfach
neugierig zu erproben, ist die Welt anders-
wo längst in Neuland aufgebrochen. In
Kalifornien, in China sind Firmen bezie-
hungsweise Staatskonzerne entstanden,
die die einstigen Technologieführer aus
Deutschland vor sich hertreiben. Sie fassen
das Auto und seine Nutzung ganz neu,
ganz anders auf.
Deutsche Hersteller glaubten bis vor
Kurzem, neue computertechnologische
Möglichkeiten und die digitalen Netzwerke
dienten vorrangig dazu, ihre real existie-
renden, konventionellen Autos immer wei-
ter zu perfektionieren. Ihr traditionelles
Geschäftsmodell, das sich um den Verkauf
von Autos für den Individualverkehr dreht,
stellen sie nicht infrage. Anders die New -
comer aus China und den USA: Sie haben
das Digitale selbst ins Zentrum der neuen
Mobilität gerückt. Computer sind bei ihnen
nicht mehr Zutat, sondern Herzstück der
Fahrzeuge und des Geschäftsmodells.
Ein Tesla ist in den Augen seiner Erbau-
er ein Hochleistungscomputer, der die er-
staunlichsten Dinge kann, unter anderem
das elektrisch angetriebene, autonome He-
rumfahren. Auch Chinas industrielle
Avantgarde ist nicht mehr ausschließlich
an individuellem Fahrspaß interessiert,
sondern auf der Suche nach leistungsstar-
ken Mobilitäts-Tools, die sich in ein neu
zu organisierendes Stadtleben einpassen
und Passagiere sicher, sauber und bequem
von A nach B bringen.
In der Autobranche knallen Welten auf-
einander, diese Welten hat der SPIEGEL
in den vergangenen Wochen erkundet –
in der Tesla-Fabrik im kalifornischen Fre-
mont, in einer chinesischen Modellstadt
südlich von Peking, bei süddeutschen Zu-
lieferbetrieben und in den Forschungsab-
teilungen deutscher Autokonzerne. Die
Befunde sind besorgniserregend.
Die Zeichen stehen auf Disruption, das
ist ein auch unter Managern modisches
Wort, das vom lateinischen »disrumpere«
stammt und übersetzt heißt: zerschlagen,

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019 11


Titel

Motorschaden

MobilitätGetrieben von kalifornischen Erfindern und chinesischen Aufsteigern, sucht die deutsche


Autoindustrie ihren Platz in der neuen Welt der Robotaxis und Elektromobile. Ein Jahrhundert
lang setzte sie die Standards, nun laufen BMW, Daimler, Audi und VW gefährlich weit hinterher.
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