Der Spiegel - 26.10.2019

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Literatur

»Als würde man


einen Film schauen«


Die Künstlerin und Autorin
Cemile Sahin, 29, über ihren Debütroman
»Taxi«, in dem sie vom Krieg schreibt


SPIEGEL:Der Anfang Ihres Buches ist
eine Aneinanderreihung von kurzen
Sätzen. Das macht es nicht leicht,
in die Geschichte reinzukommen.
Sahin:Da bin ich anderer Mei-
nung. Ich finde den Anfang super
filmisch. Ich wollte einen Roman
schreiben, der wie ein Film an -
gelegt ist. Nicht wie ein Dreh-
buch, sondern so, als würde man
tatsächlich einen Film schauen.
SPIEGEL:Wie meinen Sie das?
Sahin:Ich habe beispielsweise darüber
nachgedacht, wie sich eine Folterszene
erzählen lässt. Wie kann man etwas so
Grausames mit Sprache beschreiben?
Dabei habe ich mich an den Möglichkei-
ten des Filmschnitts orientiert. Man
kann sehr schnell zwischen Charakteren,

Orten und Zeiten springen, um eine
Situation komplex zu beschreiben. Und
nach der Szene wandert die Geschichte
einfach woanders hin.
SPIEGEL:In Ihrem Debütroman hat
eine Mutter, deren Sohn seit zehn
Jahren verschollen ist, einen Mann
gesucht, der den Sohn ersetzen und
spielen soll.
Sahin:Ich wollte eine Geschichte über
den Krieg schreiben. Über das, was da -
nach passiert, Jahre später. Wenn
der Krieg, wie es scheint, schon
fast vorbei ist. Für die Menschen,
die im Krieg waren, hört er nie
auf, auch wenn er vorbei ist. Sie
sind traumatisiert oder versuchen,
Wege zu finden, um mit dem
Trauma leben zu können.
SPIEGEL:Sie sind selbst Kurdin.
Spielt das für Ihr Buch eine Rolle?
Sahin:Ich finde nicht, dass meine Famili-
engeschichte im Vordergrund stehen muss.
Natürlich beziehe ich Stellung, das sollte
man auch. Egal ob Kurdin oder nicht.RED

Cemile Sahin: »Taxi«.
Korbinian; 220 Seiten; 20 Euro.

Kino

Brennende Leinwand


 Ob geheiratet wird, das entscheidet der
Bräutigam in Mailand erst, wenn ihm das
Porträt seiner unbekannten Versproche-
nen gefällt. An der bretonischen Küste,
ums Jahr 1770 herum, will sich die Braut
aber nicht malen lassen. Sie ist in Trauer
um ihre verstorbene Schwester. Die von
der Familie bestellte Malerin muss des-
halb im Geheimen arbeiten, sich als Kon-
versationsdame ausgeben und ihr Porträt
aus verstohlenen Blicken auf ihr Sujet
zusammensetzen. Dieses Sujet ist Adèle
Haenel, in ihrer Heimat Frankreich längst
ein Star, aber eines neuen Zuschnitts:
energisch, unprätentiös und offen les-

bisch. In »Porträt einer jungen Frau in
Flammen« entwickelt sie nun eine Strahl-
kraft, die die Kinoleinwand selbst Feuer
fangen lässt. So wie die Malerin (Noémie
Merlant) kann man kaum anders, als
sich in sie zu vergucken. Die Liebe zwi-
schen den zwei Frauen ist, der Zeit
gemäß, eine unmögliche. Doch Autorin
und Regisseurin Céline Sciamma nimmt
diesem Umstand die Tragik. Sie reflek-
tiert über die Darstellung von Frauen,
darüber, wie die Karrieren von Malerin-
nen unterbunden wurden und welche
Bilder es deshalb nie gegeben hat. Dabei
vergisst Sciamma jedoch nie, den großen
Zauber der Liebe einzufangen. Reicher,
klüger und beglückender ist Kino selten
gewesen. Kinostart: 31. Oktober. HPI

Elke SchmitterBesser weiß ich es nicht

Wahn und Weihe


Nun also Handke, noch ein-
mal. Die erste Exegese-
runde fand während der
Balkankriege statt. Das
Resultat ist dasselbe: Die
Schriften Handkes zu Jugos -
lawien sind verfälschend und
demagogisch – eine verkitschte Form
der staatlichen serbischen Propaganda
(denn eine Opposition gab es auch!).
Bei Recherchen auf dem Balkan star-
ben mindestens 40 Journalisten. Das
Internationale Kriegsverbrechertribu-
nal in Den Haag befragte Opfer, Foren-
siker ordneten Knochen zu, es war ein
jahrelanger juristischer Prozess. Aber
wen ficht das an, dieses genau doku-
mentierte Ergebnis namens Realität?
Jedenfalls nicht die Feuilletonisten,
die immer wieder nach Paris pilgerten,
um das Weltorakel zu befragen und
Schmähungen des Journalismus entge-
genzunehmen. Es muss doch etwas
Unheimlich-Spektakuläres mitzuschrei-
ben sein bei diesem selbst ernannten
Nachfahren Homers, der lieber mit den
großen Bäumen spricht als mit den
kleinen Menschen? Der einsame Mann,
der mit einer Offenbarung vom Berge
kommt, diese Rolle ist seit Mose ein
medialer Hit. Auch Ernst Jünger im
Försterhaus und Martin Heidegger in
seiner Schwarzwaldhütte haben
gezeigt, wie groß die Propheten der
deutschen Sprache irren können. Und
welchen Honig man aus der Unter -
werfung zieht. Bedingung ist allerdings,
dass man von Jugoslawien wenig weiß
und so nicht beurteilen kann, was
er »infrage stellt«. Doch wer versteht
schon den Balkan? Man müsste am
Ende Zeitungen lesen!
Der Schriftsteller Peter Handke ist
für mich ein früher Sänger der interna-
tionalen Rechten. Inhaltlich durch die
rhetorische Weihe völkischen Denkens
und allgemeiner Zivilisationsmüdigkeit.
Gegen Konsumismus und die westliche
Weltverschwörung, Gemeinschaft statt
Gesellschaft, Verachtung der Wissen-
schaft und nebenher ein bisschen Frau-
enhass – das ganze Programm. Stilis-
tisch durch das Vorgehen: zwei Wörter
vor, eins zurück, dazwischen Gewölk.
Doch was ficht sie das an, die Litera-
turkritik und das Nobelpreiskomitee,
das Handke nun kanonisch macht?
Wenn hinten, weit, in der Türkei, die
Völker aufeinanderschlagen, steht man
am Fenster, trinkt sein Gläschen aus.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter
und Nils Minkmar im Wechsel.

ALAMODE FILM / WILD BUNCH
Haenel, Merlant in »Porträt einer jungen Frau in Flammen«
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