Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
Neue Marktführer
Die weltgrößten Hersteller von E-Autos*,
nach Neuzulassungen 2018; in Tausend

Quelle: ZSW;
* reine Batteriefahrzeuge
und Plug-in-Hybride

TeslaUSA 234
BYDChina 216
BAICChina 161

SAICChina 108
NissanJapan 88
BMWDeutschland 87
VWDeutschland 54
General MotorsUSA 50
ToyotaJapan 45

MitsubishiJapan 38

zerbrechen, zerreißen. Diese Wörter braucht,
wer den Zustand der deutschen Automo-
bilindustrie beschreiben will.

Sajjad Khan, 45, spricht wie ein Missio-
nar,wenn er über die Zukunft redet. Der
in Pakistan geborene Manager ist Bereichs-
vorstand für »CASE« bei Mercedes-Benz,
das steht für Connected, Autonomous,
Shared, Electric, also für alles, was Auto-
manager von heute für die Mobilität von
morgen halten. Khan soll dafür sorgen,
dass die Zukunft Daimler nicht überrollt.
Sein Arbeitsplatz befindet sich in Sin-
delfingen, wo seit 1915 Autos gebaut wer-
den, darunter auch die S-Klasse, der Stolz
aller Daimler-Ingenieure, die Ikone der
Mercedes-Fans. Mehr als 25 000 Men-
schen arbeiten für Daimler an dem Stand-
ort, das weltgrößte Werk des Konzerns ist
hier beheimatet, in der heimlichen Haupt-
stadt von »Autoland«, wie sich Baden-
Württemberg ohne große Ironie selbst
nennt. Khan will den Leuten in Sindelfin-
gen die Selbstzufriedenheit austreiben.
Gerade kommt er von einer dieser Be-
triebsversammlungen, die heutzutage
»Townhall-Meetings« heißen, auf denen
Manager die Belegschaft auf Strategien
und Veränderungen einschwören. »Wir
brauchen einen Weckruf«, sagt Khan.
»Wir müssen uns grundlegend verändern
– als Individuen, als Abteilung, als Firma,
als Land. Wenn nicht, kommen harte Zei-
ten auf uns zu.« Er kämpft für Deutsch-
land, seine Frau und seine Kinder sind hier
geboren, als sein Vorbild nennt Khan den
ersten Nachkriegskanzler Konrad Ade-
nauer. »Wir müssen wieder die Mentalität
entwickeln, die das Wirtschaftswunder er-
möglicht hat. Und zwar nicht erst, wenn
wir auf die Nase gefallen sind.«
Aus Khan spricht die Angst, dass die
neuen Wettbewerber aus dem Silicon Val-
ley und China schneller sind als Daimler,
hungriger nach Erfolg. Daimler hat sich
einen Claim gegeben, der den alten Füh-
rungsanspruch hochhält, der aber auch ir-
gendwie verzweifelt klingt: »Wir haben
das Automobil erfunden. Jetzt gestalten
wir seine Zukunft.« Aber was heißt das?
Die schnelle Antwort darauf lautet: alles
Mögliche. Daimler-Chef Ola Källenius be-
schwor vor einigen Wochen bei der Bran-
chenshow IAA den Pioniergeist des Kon-
zerns, ließ vom Flugtaxi »Volocopter« bis
zum Brennstoffzellenfahrzeug alles auf-
fahren, was die hauseigenen Forschungs-
labore von Sindelfingen über Sunnyvale
in Kalifornien bis ins indische Bangalore
hergeben. »Wir müssen an allen vier
CASE-Themen parallel arbeiten«, sagt
Khan. »Es wäre extrem gefährlich und
kurzsichtig, wenn wir uns nur auf die
E-Mobilität konzentrierten.«
Nicht der Antrieb allein entscheide über
die Zukunft, sagt Khan, sondern auch die


intelligenten Systeme, die Fähigkeit, selbst-
fahrende Autos zu bauen, sie zu vernetzen
und profitable Carsharing-Dienste zu ent-
wickeln. Auf 9,1 Milliarden Euro hat Daim-
ler vergangenes Jahr sein Forschungs- und
Entwicklungsbudget aufgestockt. Aber
während man in Sindelfingen und Stutt-
gart noch forscht, werden in Kalifornien
und China längst ganz neue, ganz andere
Autos gebaut. Setzen die Deutschen das
viele Geld richtig ein?
Mit großem Engagement arbeitet Daim-
ler zum Beispiel daran, den Sprachassis-
tenten »Hey Mercedes« zu verbessern,
über den die Kunden das Infotainment-
System steuern können; weltweit laufen
Werbespots, das Gadget zu vermarkten.
Gemeinsam mit Hyundai aus Südkorea
und zwei chinesischen Technologiefirmen
hat man hundert Millionen Dollar in die
amerikanische Start-up-Firma Sound-
Hound investiert, die Spracherkennungs-
software entwickelt. Daimler fürchtet, dass
Amazons Alexa oder der Google Assistant
die Wohn- und Kinderzimmer verlassen

und sich in den Autos breitmachen könn-
ten. Khan will, dass Mercedes-Fahrer nicht
fremde Dienste nutzen, wenn sie unter-
wegs eine Pizza bestellen, sondern das
hauseigene »Hey Mercedes«. Nach neuer
Epoche klingt das erst einmal nicht.

Im Zukunftslabor von Alphabet,dem
Google-Mutterkonzern, tüftelt John Kraf-
cik mit einem Team von mehreren Hun-
dert Leuten am fahrerlosen Auto herum.
In der Lobby eines dreigeschossigen hellen
Backsteinbaus im kalifornischen Mountain
View deutet nichts auf die Firma hin, die
im Alleingang die Autokonzerne auf der
ganzen Welt herausfordert. An der schwar-
zen Wand hinter dem schmalen Empfangs-
tisch hängt nur ein großes silbernes X, die
Chiffre für alle Geheimprojekte, mit denen
Alphabet die Welt verändern will.

Aus einem dieser Projekte ist ein eige-
nes Unternehmen entstanden, das als
weltweit führend beim autonomen Fahren
gilt: Waymo, eine Wortschöpfung aus den
englischen Vokabeln für Weg und Mobili-
tät. Die Firma entwickelt »den kompeten-
testen Fahrer der Welt«, und der wird aus
Sicht von Firmenchef Krafcik kein Mensch
mehr sein, sondern ein Computer, der die
Umgebung mit Kameras, Laserscannern
und Radar abtastet und anhand von Al-
gorithmen entscheidet, wie er zu reagie-
ren hat.
Draußen auf den Straßen rund um das
Google-Gebäude kurven weiße Vans, die
keinen Chauffeur mehr benötigen. Die
Menschen, die derzeit noch hinter dem
Steuer sitzen, müssen nicht lenken, brem-
sen oder schalten, sie passen nur auf, dass
der Computer keinen Fehler macht. Und
das passiert äußerst selten: Im Schnitt
muss ein Fahrer nur alle 18 000 Kilometer
ins Waymo-System eingreifen, besagt die
Statistik der kalifornischen Verkehrsbehör-
de. Die Zahlen für deutsche Hersteller, die
deutlich später mit den Tests begonnen ha-
ben, sind dagegen erschütternd.
Die Statistik weist aus, dass Waymo im
Jahr 2018 mit 111 autonomen Testwagen
in der Welt draußen un-
terwegs war, General Mo-
tors hat sogar eine Robo-
Flotte von 162 Autos auf
den Straßen. BMW dage-
gen nimmt am großen
Freilandversuch in Kalifornien mit gerade
mal 5 Fahrzeugen teil, Mercedes-Benz mit


  1. Der sogenannte Disengagement Report
    offenbart, wie oft das autonome Fahrsys-
    tem während der Tests im Jahresverlauf
    unterbrochen wurde, weil der menschliche
    Testfahrer eingriff oder eingreifen musste.
    Bei den Waymo-Autos war das im Jahr
    2018, wie gesagt, alle 18 000 Kilometer
    der Fall. Die 5 BMW-Testwagen, die ins-
    gesamt nur etwa 65 Kilometer unterwegs
    waren, schafften ohne Eingriff der Fahrer
    keine 8 Kilometer, Mercedes schnitt sogar
    noch schlechter ab: Den Maschinen wurde
    alle 2,4 Kilometer in die Steuerung gegrif-
    fen. Waymos Vorsprung durch Technik,
    der Rückstand von BMW und Mercedes,
    ist bereits gigantisch.
    Gut nur, dass die Google-Schwester kei-
    ne Pläne hat, eigene Fahrzeuge zu bauen.
    Die weißen Vans in Mountain View stam-
    men vom US-Hersteller Fiat Chrysler.
    Waymo hat sie mit seinen Sensoren aufge-
    motzt und ihnen die hauseigene künstliche
    Intelligenz eingehaucht. Für Volkswagen,
    Daimler & Co. ist das jedoch nicht minder
    bedrohlich.
    Wenn Firmen wie Waymo mit ihren
    Algorithmen und ihrer Beherrschung von
    Kameras, Laserscannern und sonstigen
    Sensoren die Navigation künftiger Autos
    regieren, werden die heute noch großen


12 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Titel
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