Der Spiegel - 26.10.2019

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E


s ist eine dieser kurzen, schnellen Be-
wegungen, wie sie Niklas Süle Hun-
derte Male in einem Spiel ausführt.
Am vergangenen Samstag läuft der In-
nenverteidiger des FC Bayern München
in der neunten Minute einem weit geschla-
genen Ball des FC Augsburg hinterher, ein
Zweikampf bringt den 1,95 Meter großen
Nationalspieler ins Wanken. Süle stoppt
ab, dabei stürzt er und fasst sich gleich un-
ter Schmerzen an sein linkes Knie.
Später verlässt er auf Krücken das Augs-
burger Stadion. Kreuzbandriss. Schon
am nächsten Abend liegt er auf dem
Opera tionstisch von Christian Fink, der
Chirurg aus Innsbruck gilt in Sportlerkrei-
sen derzeit als der Mann mit den goldenen
Händen.
Der Kreuzbandriss ist die Verletzung,
vor der sich alle Fußballer fürchten. Sie
heilt nur langsam, zwingt die Sportler
zu monatelangen Pausen. Die gesetzliche
Unfallversicherung VBG ermittelte in
den höchsten deutschen Ligen des Basket-
balls, Eishockeys, Fußballs und Handballs
eine durchschnittliche Ausfallzeit von rund
achteinhalb Monaten. Laut VBG machen
Risse des vorderen Kreuzbands zwar nur
0,5 Prozent aller Verletzungen aus, sie
sorgen aber für bis zu 20 Prozent aller Aus-
fallzeiten.
Süle bremst die Verletzung nach 2014
nun schon zum zweiten Mal aus. Und sie
zwingt Bundestrainer Joachim Löw, seine
Planungen für die Europameisterschaft im
kommenden Jahr zu überdenken. Auch
für Leroy Sané wird die Zeit knapp, die
Hoffnung im Sturm hat bei einem eben-
falls harmlosen Zweikampf im August die
gleiche Verletzung erlitten.
Jedes Jahr reißen in Deutschland rund
80 000 Kreuzbänder, eine Ruptur durch-
schnittlich alle sechseinhalb Minuten.
Weltweit erwischt es jährlich etwa eine
Million Menschen, oft sind es Freizeit-
sportler.
Das Knie ist anatomisch genial. Das gro-
ße, stark belastete Gelenk wird in seinen
Bewegungen durch Bänder geführt. Das
vordere und hintere Kreuzband sorgen,
zusammen mit den Seitenbändern, bei Ro-
tationsbewegungen für Stabilität. Sie ver-
binden den Oberschenkel mit dem Schien-


bein und überkreuzen sich. Bei schnellen
Richtungsänderungen werden sie enorm
beansprucht.
Die Dynamik im modernen Spitzen-
sport kann das Gelenk leicht überfordern.
Der Kniespezialist Christian Fink operiert
im Jahr zwischen 150 und 200 Kreuz-
bandrisse, er behandelte viele Winter-
sportler, darunter Stars wie Felix Neureut-
her oder Lindsey Vonn. Auch Sané und
die Bayern-Spieler Corentin Tolisso und
Lucas Hernández lagen auf seinem Ope-
rationstisch.
Fink sagt, dass die Zeit bis zur Rückkehr
in den Spitzensport immer weiter abneh-
me. Das liegt für ihn in erster Linie am
wachsenden Leistungsdruck. Ärzte wie
Fink stehen dabei im Konflikt zwischen
dem Wohl des Sportlers und den Vereins-

interessen. »Wenn man als Arzt im Spit-
zensport tätig ist, muss man bereit sein,
Kompromisse zu machen«, sagt er.
Zwar sind die Zeiten längst vorbei, als
ein Kreuzbandriss das Karriereende be-
deutete. Je nach Sportart kehren 60 bis
80 Prozent der Athleten laut Fink nach
einem Kreuzbandriss wieder zu ihrem
vorherigen Niveau zurück. Aber die Dau-
er des Ausfalls variiert, Zusatzverletzun-
gen, beispielsweise am Meniskus, beein-
trächtigen den Verlauf der Rehabilitation
erheblich.
Der FC Bayern München tut alles für
seine hoch bezahlten Angestellten: Vier
Ärzte, sechs Physiotherapeuten, drei Fit-
ness- und Rehatrainer arbeiten für das Bun-
desligateam. Sie versuchen, Verletzungen
vorzubeugen. Aber gerade die schlimmste
ist schwer zu verhindern – ein harmloser
Rempler, ein Hängenbleiben im Rasen,
eine unglückliche Drehung, und die rund

3,5 Zentimeter langen Ligamenta cruciata
genus können gerissen sein.
Durch gezieltes Training könnten Kreuz-
bandrisse um 51 Prozent reduziert werden,
sagt die Deutsche Kniegesellschaft. Doch
die zunehmende Belastung – rund 60 Spie-
le pro Saison sind im Spitzenfußball mög-
lich – vergrößert das Verletzungsrisiko.
Fink warnt im Spitzensport vor »körper -
licher und geistiger Ermüdung«. Die Wahr-
scheinlichkeit, sich wieder am selben Band
zu verletzen, ist gerade bei 20- bis 25-Jäh-
rigen hoch. Süle ist 24.
Dass der Innenverteidiger eine Opera-
tion benötigte, war schnell klar. »Ein Rad-
fahrer kann auch ohne Kreuzband die
Tour de France gewinnen«, sagt Fink. Wer
jedoch zu »Stop and Go«-Sportarten wie
Fußball zurückkehren möchte, solle nicht

konservativ behandelt werden. Sehr häu-
fig komme es zu Folgeschäden, wenn das
Knie zu instabil bleibe.
Fink entnimmt seinen Patienten häufig
einen Teil der Sehne des Oberschenkel-
muskels und setzt ihn als neues Kreuz-
band ein, wobei die Operationstechniken
ständig weiterentwickelt werden, um eine
noch bessere Anpassung an die Anato -
mie zu gewährleisten. Aber: »Besser als
die Natur wird es nie werden«, sagt der
Chirurg.
Je mehr Operationen am selben Knie
vorgenommen werden, desto mehr Zeit
nimmt die Reha in Anspruch. »Wer es ein-
mal schafft, schafft es jedes Mal wieder«,
machte Süle auf Instagram seinen Fans
und Joachim Löw Mut. Nach seinem ers-
ten Kreuzbandriss war er 211 Tage ausge-
fallen. In genau 230 Tagen beginnt die Eu-
ropameisterschaft. Markus Sutera

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Sport

Schwache


Stelle


FußballSchon wieder hat es
einen Nationalspieler erwischt.
Die Kreuzbänder sind genial
und für Profis neuralgisch.

JENS NIERING
Verletzter Süle am vergangenen Samstag: »Wer es einmal schafft, schafft es wieder«
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