Der Spiegel - 26.10.2019

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18 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Thrun, 52, macht beim autono-
men Fahren niemand etwas vor.
Für Google baute er die Ab -
teilung für selbstfahrende Autos
auf. Später leitete er Google X,
die geheime Forschungsabtei-
lung des Tech-Konzerns. Die
Stanford University machte ihn
einst zum Leiter des Fach -
bereichs für künstliche Intelli-
genz. Heute führt er zwei eige-
ne Firmen: das Bildungsunter-
nehmen Udacity, zu dem
Voyage, ein Ableger für auto -
nomes Fahren, gehört. Und
Kittyhawk, ein Start-up für
autonome Flugtaxis.

SPIEGEL: Herr Thrun, laut Tes-
la-Chef Elon Musk sollen ab
2020 alle neuen Tesla in der
Lage sein, als autonome Robo -
taxis ohne menschliche Kontrol-
le zu fahren. Die deutsche Auto -
industrie sagt, das sei erst 2030
technisch möglich. Wer hat recht?
Thrun:Die Technologie ist heu-
te so gut wie reif. Zuletzt ging
es nur noch darum, wie das
Auto mit seltenen unerwarte-
ten Situationen umgeht, wenn
etwa plötzlich ein Reh auf die
Straße springt. Aber diese
Schwierigkeiten sind nun ge-
löst. Man muss nur in Kalifor-
nien eine Testfahrt machen, um
das zu erkennen.
SPIEGEL: Also fahren bereits
im nächsten Jahr vollautonome
Teslas auf den Straßen?
Thrun: Nein, Tesla ist nicht so weit. Aber
einige andere sollten in drei Jahren bereit
für den Markt sein, etwa die Google-
Tochter Waymo, die General-Motors-
Tochter Cruise, meine Firma Voyage. Um
es noch mal zu betonen: Die Technologie
ist nicht die Hürde. Es geht darum, das
System kostengünstig zu machen und
neue Geschäftsmodelle zu erfinden. Wem
das als Erstes gelingt, der gewinnt das
Rennen.
SPIEGEL: Die deutschen Autonamen
könnten sich also durchaus noch durch -
setzen?
Thrun: Auf jeden Fall. Die große Vision
ist das Robotertaxi: Es kommt automa-
tisch zu uns, wenn wir es brauchen, liefert
uns ab und sucht sich einen neuen Kun-

den. Das kann man für ein Viertel der jet-
zigen Taxikosten machen. Bislang hat
aber noch keiner ein konkretes Geschäfts-
modell vorgelegt, der Wettbewerb ist
komplett offen. Daimler und BMW könn-
ten den Markt bestimmen, aber auch
Newcomer wie Google.
SPIEGEL: Sie haben bereits vor 15 Jahren
begonnen, erste autonome Autos zu ent-
wickeln. Wie haben die Hersteller auf Ihre
Erfolge reagiert?
Thrun: Die Industrie hat uns bis 2015
komplett ignoriert. Die Politik übrigens
auch. Wir galten als Außenseiter, die futu-
ristischen Kram machen. Ich wurde ein-
mal Alan Mulally vorgestellt, dem damali-
gen Chef von Ford – 2013 oder 2014 war
das. Er hat mir die Hand geschüttelt und

sich sofort weggedreht. Er hat-
te null Interesse mit mir zu
sprechen.
SPIEGEL: Google-Gründer
Larry Page dagegen hat Sie mit
einem riesigen Entwicklungs-
budget ausgestattet. Warum?
Thrun: Weil er clever ist. Und
weil er nicht aus der Autoindus-
trie stammt.
SPIEGEL: Soll heißen: Volkswa-
gen und BMW können so dis-
ruptive Technologien nicht auf
den Weg bringen, weil sie zu
traditionsbewusst sind?
Thrun: Wer von außen kommt,
hat weniger Hürden vor sich.
Volkswagen hat eine riesige
Zahl von Angestellten, etliche
Fabriken, eine mächtige Ge-
werkschaft. Da ist es schwerer,
einen grundlegenden Umbruch
voranzutreiben, anders als
bei Google, wo man sich nie
vorher mit Autos beschäftigt
hatte.
SPIEGEL: Inzwischen ist klar,
dass sich die Autokonzerne
wandeln müssen, weil digitale
Technologien ihr Geschäft
verändern. Wird es früher oder
später eine Art Hybridindustrie
geben, eine Mischung aus IT-
und Autokonzernen?
Thrun: Jedenfalls sind Autos
heute zunehmend Software-
vehikel. Und mit dieser Umstel-
lung tun sich die Autobauer
schwer. Ihre Ingenieure sind
spezialisiert auf Federung,
Bremssysteme, Motortechnik. Nicht auf
künstliche Intelligenz. Aber genau darin
liegt die große Frage für die Zukunft: Wer
wird sich schneller anpassen? Fiat, BMW
oder Daimler?
SPIEGEL: Kann das einem Autokonzern
überhaupt gelingen? Das Entwicklungs-
tempo ist bei den KI-Technologien so
hoch, dass es selbst den Informatikexper-
ten im Silicon Valley mitunter schwerfällt
mitzuhalten.
Thrun: Klar, das ist eine Herausforderung.
Heute kann dank der Fortschritte bei ma-
schinellem Lernen jeder, der einiger -
maßen clever ist und sich auskennt, Autos
besser auf autonomes Fahren trainieren
als die besten Google-Experten noch vor
fünf Jahren. Wir erleben enorme Sprünge.

MATHEW SCOTT / AUGUST

KI-Experte Thrun

»Die Industrie hat uns ignoriert.«


InnovationenSebastian Thrun, Vordenker des autonomen Fahrens,
über die Zukunftschancen der deutschen Automobilindustrie

»Ein bisschen weniger Pessimismus täte gut«

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