Der Spiegel - 26.10.2019

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hier in Erfurt? Nur Lob von der Basis. Das
ist doch was.
»Ich habe immer gesagt, wir sind in der
Europäischen Union eine Wertegemein-
schaft«, sagt Annegret Kramp-Karren -
bauer, »und das müssen wir auch ernst
nehmen.« Ob ihr Vorstoß am Ende erfolg-
reich sein werde, wisse sie natürlich nicht,
»aber ich würde mir einen Vorwurf ma-
chen, wenn wir’s nicht zumindest mal pro-
biert hätten«. Und wieder Beifall.
Zwei Stunden später, beim nächsten
Wahlkampfauftritt in einem Autohaus in
Gotha, gibt es Lob von der CDU-Land-
tagskandidatin. Sie hätte erst am Nachmit-
tag mit der Senioren-Union über Syrien
gesprochen, und zwar sehr positiv.
Die Ministerin lebt in zwei Welten in
diesen Tagen, die kaum unterschiedlicher
sein könnten.


Es gibt die eine Welt, die aus kleinen Zir-
keln besteht, aus Kramp-Karrenbauers
Beratern, aus Militärs und Fachpolitikern,
und aus Begegnungen mit der Basis wie in
Erfurt. Hier ist man stolz auf Kramp-Kar-
renbauers Aufschlag: Endlich ein entschlos-
sener Schritt auf die Weltbühne, heißt es,
eine mutige Neuausrichtung der deutschen
Verteidigungspolitik, ein ganz großes Ding.
Wen interessiert, ob die Sozialdemokraten
mitziehen? Wir stehen auf Augenhöhe mit
Macron, Putin, Erdoğan! In diesen Kreisen
wähnt man sich nun einen Schritt weiter
auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur.
Dann gibt es die andere Welt, wo man
solche Gedanken für Größenwahn hält.
Hier ist die Stimmung zweifelnd bis wü-
tend, wird Kramp-Karrenbauer offen oder
vertraulich kritisiert für ihren Schnell-
schuss, der mit diesen Methoden und zu
diesem Zeitpunkt nicht den Hauch einer
Chance habe. In dieser Welt trifft Kramp-
Karrenbauer auch eigentlich loyale Unter-
stützer, die rätseln, warum die Parteichefin
sie mit dem Alleingang so düpieren musste.
Hier halten viele Kramp-Karrenbauer spä-
testens jetzt für nicht kanzlerfähig.
Bald wird sich entscheiden, welche Welt
für »AKK« die reale ist. Viel spricht dafür,
dass die für sie wichtigeren Leute im Lager
der Enttäuschten und Kritiker stehen, dass
hier Kramp-Karrenbauers Zukunft ent-
schieden wird. Die CDU-Chefin wurde in
ihrer kurzen Amtszeit schon aus viel bana -
leren Gründen für erledigt erklärt, wegen
verpatzter Auftritte und schlechter Umfra-
gewerte. Aber jetzt zeigt sie ausgerechnet
bei einem wahrhaft existenziellen Thema
der deutschen Außenpolitik, bei dem am
Ende das Leben deutscher Soldaten ge-
fährdet sein könnte, dass sie unfähig oder
unwillig ist, die Gepflogenheiten des poli-
tischen Berlin einzuhalten und wichtige
Verbündete professionell einzubinden.
»AKK« ist auf volles Risiko gegangen.
Die Kollateralschäden dürften sich zeigen,
wenn es an die Kanzlerfrage geht.
Andererseits ist die CDU-Chefin noch
nicht am Ende. Wo das Risiko hoch ist,
gibt es viel zu gewinnen. Auch Gegner der
Ministerin sind beeindruckt von ihrer
Chuzpe. Alleingänge leisten sich die meis-
ten Spitzenpolitiker im Laufe ihrer Karrie-
re. Sollte die Idee scheitern, könnte es für
künftige Regierungen trotzdem schwer
sein, dahinter zurückzufallen.
Kramp-Karrenbauer hat richtig kalku-
liert, dass sich an der CDU-Basis und unter
den Abgeordneten viele eine aktivere Au-
ßenpolitik wünschen. Die eigenen Leute
widersprechen auch nicht, formal haben
sich Fraktion und Kanzlerin hinter sie ge-
stellt, so wie CSU-Chef Markus Söder.
»Den Vorstoß der Verteidigungsministerin
unterstütze ich«, lobt Innenminister Horst
Seehofer (CSU). Es liege »migrations- und
sicherheitspolitisch im deutschen und euro -

päischen Interesse« Syrien zu stabilisieren.
»Ich denke besonders an die Millionen syri -
schen Flüchtlinge, die in oder vor den
Türen der Türkei sind. Stabilität und
Sicherheit in der Region sind dringend
notwendig, um zusätzliche Flucht- und
Migrationsbewegungen zu vermeiden.«
Man kann auch nicht sagen, die Vertei-
digungsministerin habe keinerlei Signale
für ihre Idee ausgesandt. Das letzte war
vor wenigen Tagen auf dem CSU-Partei-
tag zu hören: »Wann haben wir als
Deutschland, und wann haben wir als
CDU und CSU zu internationalen Fragen
eigentlich das letzte Mal einen wirklich
tragenden Vorschlag gemacht?«, rief die

Ministerin. »Ich kann es nicht mehr hören,
dass wir besorgt sind. Wir sind stark, es
kommt auf uns an, und wir müssen irgend-
wann endlich eigene politische Antworten
geben.«
Ihre Worte fanden großen Applaus un-
ter den CSU-Delegierten. Nur schienen in
Berlin alle zu denken, dass es bei wohlfei-
len Worten bleiben würde – wie meistens
in der deutschen Außenpolitik. Dass die
Ministerin zwei Tage später per Nachrich-
tenagentur und TV-Interviews Taten an-
kündigen würde, ahnte niemand.
Wie auch? Als der Koalitionsausschuss
von Union und SPD am vergangenen
Sonntag im Kanzleramt zusammentraf, kei-
ne 24 Stunden vor Kramp-Karren bauers
Aufschlag, hörte die Runde kein Sterbens-
wörtchen von der Idee. Außenminister
Maas referierte ausführlich zur Syrienkrise,
ohne dass sich Kramp-Karrenbauer groß
zu Wort gemeldet hätte, heißt es.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich
habe sogar explizit nach den 200 000
Flüchtlingen im nordsyrischen Gebiet ge-
fragt, berichten Teilnehmer, ob diese nur
mit humanitärer Hilfe überhaupt zu errei-
chen seien. Schwierig, habe Maas geant-
wortet, aber dank Hilfsorganisationen wie
dem Roten Kreuz ansatzweise möglich. Es
wäre eine von vielen Gelegenheiten für
Kramp-Karrenbauer gewesen, ihre Idee
zu erwähnen. Sie tat es nicht. Niemand
sollte ihren Vorschlag zerreden.
Die SPD wurde am Montag völlig über-
rumpelt. Außenminister Maas, mit Kramp-
Karrenbauer aus Saarländer Zeiten freund-
schaftlich bekannt, erhielt zwar eine SMS.
Darin kündigte seine Kabinettskollegin
dem Vernehmen nach jedoch nur an, in
einem Interview etwas zu Syrien zu sagen.
Eine Nachfrage von Maas blieb unbeant-

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Deutschland

ARNE IMMANUEL BÄNSCH / DPA

Viele fragen sich, ob die
Parteichefin die Regeln
des Politikbetriebs noch
nicht beherrscht.
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