Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019 33


Z


wei Tage nachdem Stephan Balliet
in Halle zwei Menschen erschossen
und vergebens versucht hatte, eine
Synagoge zu stürmen, sitzt er in Karlsruhe
vor dem Haftrichter und redet. Vier Stun-
den lang.
In der Vernehmung präsentiert der At-
tentäter ein Weltbild, zusammengesetzt
aus rechtsextremen und antisemitischen
Verschwörungstheorien. Ent-
deckt hat er sie offenbar in
rechten Foren wie 8chan, das
einst warb, »die dunkelste
Ecke des Internets« zu sein.
Die Bekenntnisse des Dop-
pelmörders sind eine Heraus-
forderung für die Sicherheits-
behörden. Sie zeigen, wohin
die Ermittler in Zukunft ihr
Augenmerk richten müssen:
in anonyme Foren und abge-
schottete Gruppen, in denen
sich eine Weltsicht festigt, die am Ende zu
tödlichen Taten führen kann.
Er sei ein »unzufriedener weißer
Mann«, sagte Balliet, 27, dem Haftrichter.
Sein Strafverteidiger Hans-Dieter Weber
beschreibt ihn als »sozial isoliert«.
Das Chemiestudium musste Balliet we-
gen einer Erkrankung abbrechen, eine Be-
werbung bei der Bundeswehr im Jahr 2018
zog er zurück. Er war arbeitslos und wohn-
te bei seiner Mutter im Mansfelder Land.
Manchmal tauchte er ganze Tage im Inter-
net ab – in eine digitale Schattenwelt, in
der er auf krude Theorien stieß.


Die Juden, so erklärte der Attentäter
bei seiner Haftvorführung, strebten die
Weltherrschaft an. Sie steckten hinter der
Europäischen Union und den Plänen für
eine CO 2 -Steuer. Außerdem kontrollierten
sie den Dollar und die US-Notenbank.
Auch die Grünen und die Linken seien
durchsetzt mit Juden.
In der Wahnwelt von Balliet wurde auch
die Flüchtlingskrise von Juden gesteuert,
dazu zähle der US-Finanzinvestor George
Soros, der Migranten hergelockt habe, um
Deutschland in einen multikulturellen Viel-
völkerstaat zu verwandeln.
Das sei zudem der Grund, warum Män-
ner wie er keine Frau abbekämen: Die wür-
den ihnen von den Millionen Ausländern
weggeschnappt, die von der Regierung ins
Land gelassen worden seien.
Soros und die Juden als treibende Kraft
hinter dem »Großen Austausch«: Es ist
die ultimative Verschwörungstheorie der
neurechten Alt-Right-Bewegung, die Balliet
vor dem Richter ausbreitete. Das Attentat
von Halle zeigt, wie mächtig
derartige Hirngespinste sind –
und wie gefährlich.
Balliet ist nicht der erste
Attentäter, der an eine von
Juden gelenkte »Umvol-
kung« glaubte. Vor einem
Jahr erschoss ein Rechtsextre-
mist in Pittsburgh am Schab-
bat elf Besucher der Tree-of-
Life-Synagoge. Der Angreifer
hatte über den Onlinedienst
Gab, bekannt als »Twitter für
Rassisten«, behauptet: Jüdische Vereine
steuerten den Migrantentreck von Hondu-
ras in die USA. Nach der Bluttat warnte
das FBI erstmals explizit vor Anschlägen,
die durch abseitige Verschwörungstheo-
rien im Internet ausgelöst werden.
Auch deutschen Verfassungsschützern
war zuletzt aufgefallen, dass sich unter
potenziellen Rechtsterroristen krude Ver-
schwörungstheorien und Untergangssze-
narien ausbreiten. Attentäter könnten
künftig aus Milieus kommen, die man
nicht im Blick habe, warnten sie zum Jah-
resanfang in einer vertraulichen Analyse.

Bis zum Anschlag in Halle gelang es den
Behörden nicht, die Netzwerke, in denen
solche Theorien zirkulieren, zu durchdrin-
gen: Plattformen wie 8chan, Steam oder
Discord, auf denen sich rechtsextreme
Ideologen mit der Gamer-Szene mischen.
»Wir müssen mehr externen Sachverstand
in die Sicherheitsbehörden holen«, fordert
der FDP-Innenexperte Benjamin Strasser.
8chan, das derzeit offline ist, soll eine
der meistgenutzten Seiten des Attentäters
von Halle gewesen sein. Er habe die »ab-
solute Anonymität« solcher »Image -
boards« geschätzt, sagt sein Verteidiger.
Vor dem Haftrichter in Karlsruhe er-
zählte Balliet, dass er immer ein Einzel-
gänger gewesen sei, echte Freunde oder
eine Freundin habe er nie gehabt. Nie-
mand habe gewusst, was er vorhabe.
Seit dem Moschee-Attentat vom März
im neuseeländischen Christchurch habe er
sich auf seine Tat vorbereitet, berichtete er
weiter. Von seinen Eltern wohl unbemerkt
baute er Waffen und Sprengsätze, teils mit-
hilfe von Plänen aus dem Netz. Er versteckte
das Arsenal unter seinem Bett und in einem
Ausklappsofa – um an Jom Kippur zuzu-
schlagen, dem höchsten jüdischen Feiertag.
Sein Ziel sei es gewesen, so Balliet, die
Besucher der Synagoge beim Gottesdienst
zu treffen. Die massive Eingangstür hielt
seinen Schüssen stand, am Ende ermorde-
te er eine Frau und einen Mann, die weder
jüdisch waren noch Migranten.
Während der Attentäter versuchte, die
Synagoge zu stürmen, sprach ihn eine Pas-
santin an, Jana L. Das habe ihn so aus dem
Konzept gebracht, dass von da an alles
schiefgelaufen sei, sagte Balliet bei der
Haftvorführung. Er erschoss sie wortlos.
Auch Kevin S., den er kurz darauf in
einem Dönerbistro tötete, sei eigentlich
nicht sein Ziel gewesen. Er habe ihn mit
einem Ausländer verwechselt.
Er habe es noch nicht einmal geschafft,
von der Polizei erschossen zu werden,
sagte Balliet in der Vernehmung. Er habe
auf ganzer Linie versagt.
Jörg Diehl, Sven Röbel,
Wolf Wiedmann-Schmidt

Extremer


Verlierer


TerrorDie Aussage des Halle-
Attentäters zeigt, wie sehr er
antisemitischen Verschwörungs-
theorien aus dem Netz anhing –
und sich so radikalisierte.

REUTERS REUTERS TV / REUTERS
Szene aus Video des Christchurch-Angreifers, Schütze Balliet in Halle an der Saale: »Unzufriedener weißer Mann«

Quelle: Mitte-Studie 2018/19
der Friedrich-Ebert-Stiftung;
1890 deutsche Befragte ab 18 Jahren

46 %
der Deutschen glauben:
»Es gibt geheime Orga-
nisationen, die großen
Einfluss auf politische
Entscheidungen haben.«
Free download pdf