Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

SPIEGEL:Es gibt gerade eine Diskussion,
ob an den Unis die Meinungsfreiheit in
Gefahr ist. Bernd Lucke, der mittlerweile
aus der Partei ausgetretene AfD-Mitgrün-
der, konnte in Hamburg eine Vorlesung
nicht halten, weil Studenten die Veranstal-
tung störten. Wie sehen Sie diesen Fall?
Karliczek:Ich sehe mit großer Sorge, dass
wiederholt an Universitäten Vorlesungen
gestört oder verhindert worden sind.
Hochschulen müssen Orte der freien De-
batten, der freien Lehre und des freien Stu-
diums sein. Es geht nicht, dass sich Stu-
dentengruppen oder Aktivisten als Mei-
nungszensoren aufspielen. Selbst wenn die
ganz große Mehrheit der Hochschulen
nicht betroffen war, ist das eine Entwick-
lung, die den Kern der Freiheit von Wis-
senschaft und Lehre berührt. Universitä-
ten müssen die Ausübung dieser Freiheiten
gewährleisten, auch wenn ich weiß, dass
in der Abwägung der Mittel schwierige
Entscheidungen zu treffen sind.
SPIEGEL:Sehen Sie eine neue Qualität?
Ein paar radikale Studentengrüppchen gab
es doch schon immer.


Karliczek:Mein Eindruck ist, dass sich die
Ereignisse derzeit leider häufen. Auch Tho-
mas de Maizière wurde in dieser Woche
daran gehindert, sein Buch vorzustellen.
Das ist ein ähnlicher Vorgang. Eine immer
stärkere Polarisierung schadet einer Ge-
sellschaft und kann sie im Extremfall ka-
putt machen. Weimar ist auch heute eine
Mahnung.
SPIEGEL:In Wahrheit kann doch heute je-
der sagen, was er will. Über die sozialen
Netzwerke sogar schriller, lauter und radi-
kaler als je zuvor. Wo, bitte schön, soll
denn da die Meinungszensur sein?
Karliczek:Natürlich kann man überall frei
reden. Aber die freie Rede schlägt mittler-
weile oft in ein Niedermachen, in Hass um.
Das geschieht von vielen Seiten. Bis in die
Mitte der Gesellschaft hinein gibt es heute
das Gefühl, man dürfe nicht mehr alles sa-
gen. Das ist in vielen Bürgerdiskussionen
zu einer stehenden Redewendung gewor-
den. Wenn einer das sagt, nicken die ande-
ren. Die Leute haben das Gefühl, dass sie
schon dann, wenn sie sich vielleicht etwas
ungeschickt ausdrücken, runtergemacht

werden. Wir müssen aufpassen, den politi-
schen Diskurs nicht so zu verengen, dass
wir einen Teil der Gesellschaft verlieren.
SPIEGEL:Wie meinen Sie das?
Karliczek:In der Gesellschaft fehlt es zum
Teil an der Bereitschaft, eine Meinung ein-
fach mal so stehen zu lassen. Wir brauchen
mehr Toleranz. Das bedeutet nicht, dass
sich die Gesellschaft nicht gegen Radikale
von links und rechts, gegen Antisemitis-
mus abgrenzen muss. Das muss sie viel-
leicht mehr denn je. Aber wenn wir nicht
wieder etwas offener werden, dann haben
wir definitiv auch ein Problem. Dann wen-
den sich noch mehr Menschen von den de-
mokratischen Parteien ab, weil sie sich ein-
fach nicht verstanden fühlen.
SPIEGEL:Herr Lucke hat einst der AfD
zur Geburt verholfen, die heute teils
rechtsextrem argumentiert. Da ist eine ge-
wisse Emotionalität doch nachvollziehbar.
Karliczek:Ja, man muss Herrn Lucke
nicht mögen. Man darf sich natürlich mit
ihm auseinandersetzen und sollte dies erst
recht mit der AfD tun. Zu viele sitzen aber
auch auf einem moralischen Thron. Eine
solche Haltung nützt der Demokratie
nicht. Nur weil sich vielleicht jemand nicht
voll gendergerecht ausdrückt oder nicht
umfassend politisch korrekt formuliert,
darf er nicht gleich runtergemacht werden.
Viele Menschen wollen einfach nur reden,
wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die
meisten Bürger sind nicht rassistisch oder
extremistisch unterwegs. Sie haben eine
Einstellung zu bestimmten Dingen, und
die wollen sie artikulieren in ihrer Alltags-
sprache. Wir müssen lernen, wieder mehr
zuzuhören und auch einmal Meinungen

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Deutschland

»Weimar ist auch heute


eine Mahnung«


HochschulenNach den Eklats um AfD-Gründer Bernd Lucke an
der Uni Hamburg warnt Bundesministerin Anja Karliczek, 48 (CDU),
vor studentischen Zensoren und übertriebener Korrektheit.

MARKUS SCHOLZ / DPA
Ökonom Lucke während einer von Störern belagerten Vorlesung: Die Universitäten befinden sich mitten im Meinungskampf
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