Der Spiegel - 26.10.2019

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DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

W


ir waren die Bösen«, sagt Nina
Scheer. »Die Schmuddelkin-
der«, ergänzt Karl Lauter-
bach. Die eine wirkt eher zu
nett. Der andere mit Fliege eher zu ge-
schniegelt, wie sie da zusammensitzen. Es
ist der 4. September, Saarbrücken. Gleich
beginnt hier die erste Regionalkonferenz
der Bewerber um den SPD-Parteivorsitz.
Scheer und Lauterbach kommen gerade
von der Vorbesprechung aller Kandidaten
mit Generalsekretär Lars Klingbeil. Dem
Mann, der in den kommenden Wochen
den offenen Prozess loben wird und die
Einzigartigkeit der Kandidaten. 70 Prozent
der Zeit, erzählen Lauterbach und Scheer
nun im Restaurant, sei es um sie gegangen.
Sie sollten ihre Forderung aufgeben, die
Mitglieder über den Ausstieg aus der Gro-
ßen Koalition entscheiden zu lassen, hieß
es. Das sei zu teuer. Und zweitens solle
man die Suche nach der neuen Parteispitze
bitte schön von der Frage trennen, wie es
mit der Regierung weitergehe. So weit die
Vorgabe für den offenen Prozess.
Lauterbach und Scheer, das wird gleich
zu Beginn deutlich, sind die widerspens-
tigsten Bewerber um den Parteivorsitz.
Ihre Forderungen nach einer radikalen Kli-
mapolitik und dem sofortigen Ausstieg aus
der Großen Koalition machen sie zum
Feind des Establishments. Sie unterlaufen
das weitverbreitete Bedürfnis in dieser tief
verunsicherten Partei, dass sich die da
oben nach all den Machtkämpfen der Ver-
gangenheit bitte endlich lieb haben sollen.
So startet die SPD in das größte interne
Demokratieprojekt mit einem kleinen Pro-
blem: Wettstreit ja, aber bitte schön ku-
schelig. Und mit einem Paradoxon: Die
Schmuddelkinder sind die Frau mit dem
Blazer und den abgestimmten Ohrringen
und der Mann mit der Fliege. Frau Dr.
Scheer und Professor Dr. Lauterbach.
»Wenn die echt dachten, sie könnten
mich davon abbringen, dann kennen sie
mich aber schlecht«, sagt Lauterbach.
»Man muss zur absoluten Konfrontation
bereit sein. Man darf keinen Millimeter
nachgeben.« Die unter den Genossen weit-
verbreitete Angst vor Neuwahlen erinnere
ihn an Menschen, die den Gang zum Arzt
meiden aus Angst vor der Diagnose.
Jetzt schnell noch einen koffeinfreien
Kaffee. Sicherheitshalber fragt er den Kell-
ner, mit welchem Wasser der gebrüht wer-
de. Nicht dass der Salzgehalt zu hoch ist.
Lauterbach lebt seit 30 Jahren salzlos.
Gleich auf der Bühne müsse es zwischen
ihnen Hand in Hand gehen, sagt Lauter-
bach. Er selbst werde völlig authentisch
reden. »Ich spanne den Bogen von meiner
Kindheit bis zum Ausstieg aus der GroKo.
Ohne Manuskript. Das könnt’ ich nach
fünf Glas Wein noch bringen.«
So redet er gern. Und es gehört zu den
lustigen Momenten, ihn dabei zu beobach-


ten, wie er seine Spontaneität genau plant.
In den kommenden Wochen wird es häufig
dazu kommen, an vielen Orten der Repu-
blik. Denn so wie die Kandidatur der zwei
kämpferischen Doktoren ein Experiment
für die SPD ist, so ist die Kampagnenwelt
ein Experiment für die zwei Doktoren.

Ein Montagabend im August, Restaurant
Toscana im Prenzlauer Berg. Lauterbach
hat sich bereit erklärt, sich den Wahlkampf
über begleiten zu lassen. Er hat sich gut
vorbereitet auf seine Kandidatur mit der
Umweltexpertin Nina Scheer. Er spricht
über den neuen, generalüberholten Lau-
terbach. »Ich habe mein Twitter-Verhalten
geändert«, sagt er. Oberste Regel sei:
»Nicht mehr nach Weingenuss!«
»Ich spreche jetzt auch anders.« Lauter-
bach hat Videoanalysen seiner Reden im
Bundestag gemacht. »Ich habe Spaß daran,
besser zu werden.« Auch sein Outfit hat
er optimiert. Sein Klassiker, schwarzer An-
zug, weißes Hemd, sei von gestern, sagt
er. Er wolle modischer auftreten, weniger
klassisch. »Nichts ist schlimmer als der
dünne Hecht im Anzug.«
Nur was seine Fliege betrifft, ist er noch
unschlüssig. Er denkt darüber nach, sein
Markenzeichen öfter mal wegzulassen,
jetzt, da er Vorsitzender werden will. »Die
Fliege wirkt professoral.« In diesen Zeiten
sei aber Kampfmodus angesagt, da laufe
man nicht festlich mit Fliege rum.
Die Existenzkrise der SPD bietet für Ex-
zentriker wie Lauterbach eine einmalige
Gelegenheit. Unter den alten Bedingungen
hätte jemand wie er wohl nie eine Chance
auf den SPD-Vorsitz gehabt. Man brauchte
dafür eine Machtbasis in der Partei, die
Unterstützung von Landesverbänden und
Strömungen. Lauterbach, der in Harvard
studierte und mit 35 Jahren Professor wur-
de, las lieber Studien oder besuchte Talk-
shows, als die Gremien der Partei zu um-
garnen. Nun aber dürfen die Mitglieder
über ihre Vorsitzenden entscheiden, und
alles scheint möglich.
Das Verfahren geht so: Nach einer Tour-
nee aller Kandidatenpaare durch 23 Re-
gionalkonferenzen stimmen die Mitglieder
ab. Das Ergebnis wird an diesem Samstag
verkündet. Die beiden führenden Paare
kommen in die Stichwahl.
Bislang war Lauterbach den Bürgern
vor allem als Gesundheitsexperte bekannt,
das Etikett haftet an ihm wie seine Fliege.
Dass er nun als Klimaschützer unterwegs
ist und die Regierung platzen lassen will,
wirft unter seinen Parteifreunden Fragen

auf. »Ich gelte ja als gerissen«, sagt er.
»Deshalb denken jetzt viele, das sei alles
Taktik.« Wenn man ein klares Ziel habe,
dann sei jede Finesse oder Trickserei er-
laubt, um es zu erreichen. »Aber das Ziel
selbst, das, wofür man einsteht, das darf
niemals taktisch gewählt sein.«
Dass dem Klimawandel schnell und ra-
dikal begegnet werden müsse, davon sei
er überzeugt. Er habe alle Studien dazu
gelesen. Studien sind sein Hobby, seine
Einschlaflektüre, er liest fast alles, was er-
forscht wurde. Seine 12-jährige Tochter
zieht mit den Aktivisten von »Fridays for
Future« auch gegen die Politik der SPD
durch die Straßen. All das habe ihm zu
denken gegeben, sagt Lauterbach. Viel-
leicht sei die Dringlichkeit der Klimafrage
sogar der wichtigste Antrieb für seine Kan-
didatur. Es gibt Genossen, die das bezwei-
feln. Ist ihm schnuppe. Sei’s drum.
Mit der Sozialpolitik die Älteren errei-
chen, mit dem Klima und der Absage an
die GroKo die Jüngeren. »Das ist die Zwei-
frontenstrategie«, sagt Lauterbach.

Ein paar Tage später ist er auf dem Weg
nach Dachau, Sitzplatz 1E in der Lufthan-
sa-Maschine nach München. Am Abend
soll er eine Rede in einem Bierzelt halten.
Das Experiment beginnt.
Am Flughafenhotel wird er vom Klaus
abgeholt, einem örtlichen Genossen. Es
dauert nicht lange, bis Lauterbach zur Sa-
che kommt. »Was würdet ihr davon halten,
wenn jetzt auch Kevin Kühnert kandidie-
ren würde?« Dieses Gerücht hatte er ge-
hört, es geisterte durch die SPD. Lauter-
bach fürchtet, dass der populäre Kühnert
mehr Stimmen im linken Lager holen und
alles auf einen Zweikampf Scholz – Küh-
nert hinauslaufen könne. Ohne Kühnert
hatte er sich bereits große Chancen auf
den Sieg ausgerechnet. »Ich dachte schon,
der Fisch sei geputzt.«
»Wir sind zwiespältig bei dem«, antwor-
tet Klaus.
»Sonst hättet ihr den Kühnert eingela-
den und nicht mich, oder?«
Man habe das diskutiert, sagt Klaus.
»Aber du lagst weit vorne.«
Lauterbach nickt zufrieden. »Ha, da
steigt bei mir doch gleich die Stimmung.«
Im Bierzelt wirkt er mit Fliege und sei-
nem vorbildlichen Body-Mass-Index zwi-
schen all den Schweinshaxen und Bier-
humpen etwas deplatziert. Neben Salz ver-
zichtet er seit 32 Jahren auch auf Fleisch.
Es folgt eine einstündige Rede, in der
er nicht nur die Lage des Landes, unter-

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Deutschland

»Falls wir gewinnen, wird sich die SPD schnell


erholen. Es ist eigentlich keine Raketenwissenschaft,


der Partei wieder Leben einzuhauchen.«

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