Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

füttert mit vielen Daten, skizziert. Er ent-
wirft auch die Vision einer gerechteren Ge-
sellschaft, basierend auf den Gedanken
des linken Philosophen John Rawls, bei
dem er einst in Harvard studierte. »Dass
ich inhaltlich gut zu Fuß bin, nimmt mir
jeder ab. Dass ich auch ’ne Rampensau
bin, überrascht die Leute«, sagt er später
über den Abend. Zum Dank wird ihm eine
Fliege aus Holz überreicht.
Nach der Rede wünschen ihm viele Be-
sucher Glück für die Kandidatur. »Karl,
deine Rede hat mich tief bewegt«, sagt ein
Genosse. »Ich habe Willy Brandt noch er-
lebt.« Pause. »Das war jetzt wieder so.«
Auf der Rückfahrt zum Airport-Hotel
sagt Genosse Klaus, dass er ihn beim
nächsten Besuch gern wieder abholen wür-
de. »Dann aber als Bundeskanzler. Und
mit Holzfliege.« Lauterbach, beflügelt von
einem Abend, an dem er genügend Zeit
zum Reden hatte, hält diese Aussicht plötz-
lich für realistisch. »Falls wir gewinnen,
wird sich die SPD schnell erholen. Es ist
eigentlich keine Raketenwissenschaft, der
Partei wieder Leben einzuhauchen. Und
dann wird sich die Kanzlerfrage umso
mehr stellen.«
Für eine Kandidatur mag der rosarote
Blick auf sich selbst von Nutzen sein. Aber
er birgt auch die Gefahr, am Ende bitter
enttäuscht zu werden.
Ein paar Tage später erfährt er, dass Ke-
vin Kühnert doch nicht antreten wird. Er
sitzt in einem Zug von Köln ins Saarland.
»Ich bin sehr erleichtert.« Als Beleg, dass
es nun gut für sie laufe, verweist Lauter-
bach auf eine Umfrage des Meinungsfor-
schungsinstituts Forsa unter mehr als tau-
send SPD-Mitgliedern. Scholz und seine
Partnerin Klara Geywitz lägen vorn mit
26 Prozent. Dann Scheer und er mit 14,
vor Ralf Stegner und Gesine Schwan mit



  1. »Wir liegen an zweiter Stelle!« Alles
    laufe auf eine Stichwahl mit Scholz hinaus.
    Das bestimmende Thema der kommen-
    den Wochen werde ihr Thema sein, die
    Klimapolitik. Nina Scheer sei eine ausge-
    wiesene Expertin auf dem Feld. »Und ich
    bin auch voll im Stoff.« Als er neulich Gast
    bei Maybrit Illner war, saß er mit grüner
    Fliege dort. »Mir war wichtig zu signali-
    sieren: Ich bin der für Umweltschutz.
    Ganz subtil.« Es wirke ein wenig künstlich,
    wenn er die Fliege jetzt radikal weglasse,
    sagt er. Er will von Anlass zu Anlass ent-
    scheiden.
    In Neunkirchen sollen sie am Abend vor
    Genossen reden. Nina Scheer, die aus
    Schleswig-Holstein angereist ist, wartet be-
    reits in der Gaststätte Zum Bahnhof. Es
    riecht wie in einer Frittenbude, die Spei-
    sekarte bietet unter anderem »Schweine-
    schnitzel mit Bolognese überbacken«. Für
    den salzlos, fleischlos und eher freudlos
    essenden Lauterbach ist das ähnlich attrak-
    tiv wie Knoblauch für Vampire. Aber die


Köchin hat Nudeln mit Babyspinat und
Babykirschtomaten vorbereitet. »Alles
ohne Milch, ohne Käse, ohne Salz.«
»Eine Delikatesse«, sagt Lauterbach.
»Perfekt!«
Als ein Fotograf später Bilder von ihnen
machen will, posiert Lauterbach mit aus-
gebeulten Hosentaschen und weit runter-
hängendem Gürtel. »Bin ich nicht zu
schmal?«, fragt er den Fotografen. »Vom
Babyspinat wird das jedenfalls nicht bes-
ser«, bemerkt Scheer.
Nach der Veranstaltung üben sie Ma-
növerkritik im Regionalexpress. »Wenn
heute abgestimmt worden wäre, hätten
wir eine klare Mehrheit gehabt«, sagt Lau-
terbach. »Ein solches Format mit viel Zeit
für Inhalte bräuchten wir eigentlich.« Er
befürchte aber, dass bei den bald begin-
nenden Regionalkonferenzen ihre zentra-
le Stärke nicht zum Tragen komme. Weil
dort 17 Kandidaten auf der Bühne stünden
und insgesamt nur zweieinhalb Stunden
Zeit sei, belaufe sich die Redezeit pro
Team »auf neun Minuten, maximal auf
neun zwanzig«. Hat er jedenfalls so aus-
gerechnet. In Wahrheit wird es etwas
mehr.

Auftakt der Regionalkonferenzen, Saar-
brücken, 4. September. »Geht’s los?«, fragt
Lauterbach. Er trägt die Fliege, denn etli-
che Leute hatten sich gewünscht, dass er
sie wieder häufiger umbinde. »Und ich hat-
te mich fast schon entwöhnt.«
Er starrt auf die Digitaluhr vor ihm auf
dem Boden und wirkt wie ein 100-Meter-
Läufer im Startblock. Die Uhr läuft. »Alles
klar. Ja, mein Name ist Karl Lauterbach.
Ich komme aus dem Rheinland, aus Düren.
Ich bin das Kind aus einer Arbeiterfamilie.
Mein Vater war Vorarbeiter. Ich hab dann
das Glück gehabt, einen Bildungsaufstieg
zu machen. Bin Arzt und Wissenschaftler,
Gesundheitsökonom. Hab zehn Jahre in
den Vereinigten Staaten gearbeitet und ge-
forscht. Bin dann zurückgekommen nach
Deutschland, hab an der Uni Köln eine
Professur gehabt.«
Jedes Team hat fünf Minuten Zeit
für das Eingangsstatement. Lauterbach
spricht vor Nina Scheer und redet drei von
fünf Minuten. Dann will er ihr sein Mikro-
fon reichen, aber sie hat schon eins. Ihr
bleiben nur noch zwei Minuten. Scheer re-
det gehetzt, schaut auf die Uhr am Boden
vor sich, sagt: »Ich muss mich jetzt ein biss-
chen kürzerfassen.« Es geht nicht gut los.
Das mit der Doppelspitze muss die Par-
tei erst lernen. Etliche Herren auf der Büh-

ne stehen unter dem Verdacht, dass sie lie-
ber allein kandidiert hätten. Manche hat-
ten eine Bewerbung angekündigt, noch be-
vor sie eine Frau gefunden hatten. So ent-
stand der Eindruck, als sei die Doppelspit-
ze manchen Herren eine lästige Fleißar-
beit. Lauterbach verstärkt nun diesen Ein-
druck. Man wird nicht über Nacht zu
Baerbockhabeck.
Spätabends geht es im gemieteten
Flinkster zurück nach Köln, ein Mitarbei-
ter Lauterbachs am Steuer, die Kandidaten
auf der Rückbank. Lauterbach spendiert
eine seiner Nussmischungen, die er immer
im Gepäck hat. »Wir hatten ein paar Key-
Messages, die wir rüberbringen wollten«,
sagt er. »Dass wir aus Überzeugung gegen
die Große Koalition sind. Dass wir das Kli-
ma retten wollen. Dass wir Fachpolitiker
sind, die sich auskennen.« Sei alles klar rü-
bergekommen.
Das resümiert er trotz zwei schwerer
Versprecher. Auf der Bühne sagte er: »Wir
wollen den Klimawandel.« Und: Als Pri-
vatversicherter habe man »erhebliche
Nachteile«. Er meinte Vorteile. Das seien
so Konzentrationssachen, sagt Scheer nun
im Auto. »Ja, ne, das ist diese Jagd gegen
die Uhr«, erklärt Lauterbach. »Weil man
sieht da die Scheißuhr, die lief ständig, wie
’ne Stoppuhr.« Das Format sei einfach
schlecht für Leute, die ein bisschen in die
Tiefe gehen wollen. »Ich hatte noch so vie-
le Argumente und Studien im Kopf.«
Scheer weist ihn darauf hin, dass sie bald
eine Konferenz verpassen werde. »Gott
sei Dank, da hab ich endlich Zeit«, ruft
Lauterbach und macht selbstironisch vor,
was er dann sagen wird: »Meine Damen
und Herren, neue Studien zeigen ... Oder:
Ich möchte anknüpfen an das, was ich vor-
gestern gesagt habe ...« Großes Gelächter
im Flinkster.
»Unsere Chancen, in die Stichwahl zu
kommen, sind heute nicht gesunken«, sagt
Lauterbach, als sie Köln erreichen. Als
größten Konkurrenten, neben Olaf Scholz,
sieht er nun den früheren nordrhein-west-
fälischen Finanzminister Norbert Walter-
Borjans. Der Landesverband NRW hat ihn
und die Bundestagsabgeordnete Saskia Es-
ken noch kurz vor Bewerbungsschluss no-
miniert. Ihre Kandidatur wird auch von
Juso-Chef Kühnert unterstützt. Als Lau-
terbach von dem Plan hörte, versuchte er
noch, Walter-Borjans davon abzubringen,
am Telefon, so erzählt er es, habe er vor
dem »Morbus Spalticus« der politischen
Linken gewarnt und davor, dass man sich
im Duell mit Olaf Scholz doch nur gegen-

38

Deutschland

»Das Kauzhafte muss weg. Die Gravitas muss her.


Da ist die Fliege nicht hilfreich. Die Fliege steht im


Widerspruch zur Härte meiner Aussagen.«

Free download pdf