Der Spiegel - 26.10.2019

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DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019


seitig die Stimmen wegnehme. Aber der
Versuch scheiterte.
Walter-Borjans und Esken seien heute
schwächer gewesen, als er befürchtet habe,
sagt Lauterbach nach der ersten Konfe-
renz. Boris Pistorius auch. Die anderen
seien nur Außenseiter.
Im Zug zur vierten Konferenz in Bre-
men sagt er, dass ein Gefühl der Befreiung
bei ihm eingesetzt habe. Zwei Tage zuvor
hatte er beschlossen, bei den anstehenden
Wahlen nicht mehr als Fraktionsvize zu
kandidieren. Die ganze Nacht habe er ge-
grübelt. Aber er könne nicht als Kandidat
gegen die Große Koalition hetzen und
gleichzeitig als Fraktionsvize weiter Ge-


setze aushandeln. »Das wäre nicht konse-
quent, nicht glaubwürdig. Ich spüre diese
Spannung, und sie ist nicht richtig.«
Auch in Sachen Fliege scheint er nun
freier zu sein. Jetzt, da er alles auf eine
Karte setze, wäre es auch symbolisch rich-
tig, optisch etwas zu verändern, sagt er.
Nach Bremen und den folgenden Kon-
ferenzen hat er jeweils ein sehr gutes Ge-
fühl. Immer glaubt er, dass Scheer und er
den größten Applaus bekommen haben.
Jedes Mal hält er den Auftritt von Esken
und Walter-Borjans für schwach. Das mag

* Kegel mit Porträts von Scheer, Lauterbach und Kamp-
mann am 27. September in Braunschweig.

Wunschdenken sein. Richtig ist aber, dass
der bisweilen ekstatische Jubel mancher
Jusos für Kühnerts Team nicht zwingend
im Einklang mit dessen Darbietung steht.
Es gibt eine Bereitschaft, Esken und Wal-
ter-Borjans zu Kultfiguren hochzujubeln.
Und es gibt Hilfe in Form von Fragen, die
auf den Veranstaltungen gestellt werden.
Lauterbach spricht von »Elfmeterfragen«,
rhetorischen Vorlagen, die leicht zu ver-
wandeln sind. Manche Fragen mussten
sich die Jusos nicht mal selbst ausdenken.
Kühnerts Bundesvorstand hat sie vorher
rumgemailt. Wie das konkret aussieht,
lässt sich oft beobachten, zum Beispiel in
Dresden.
Zunächst meldet sich ein junger Mann
mit einer Frage an den Norbert. »Ich will
dich gerne zur Außen- und Rüstungspoli-
tik fragen. Da würde mich mal interessie-
ren, wie da deine Prinzipien sind.« Das
macht der Norbert gern, denn er hat be-
kanntlich sehr klare Prinzipien bei Rüs-
tungsexporten. Später steht ein Juso auf,
der wissen will, wie man denn endlich bei
der Vermögen- und Erbschaftsteuer was
erreichen könne, ein Kernanliegen von
Walter-Borjans. »Ja, am liebsten würde
ich die Frage an alle stellen, aber ich muss
mich ja für einen entscheiden.« Er lässt
eine Pause, als müsse er tatsächlich über-
legen. »Ach, dann nehm ich halt mal den
Norbert.« Selbst die anderen Jusos können
sich bei diesem schlechten Schauspiel das
Lachen nicht verkneifen.

Steakhaus Maredo, Unter den Linden.
Vor der Abfahrt nach Erfurt nimmt Lau-
terbach hier in Berlin seinen Lunch ein. Es
ist eines seiner Stammlokale, was für einen
Fleischlos-Esser ungewöhnlich erscheint.
Lauterbach kommt wegen der Salatbar her.
Sie bietet regionale Produkte in Reinform,
nichts ist angemacht. Er bestellt »einmal
Salatbar mit Nachschlag« und nimmt jedes
Mal das Gleiche.
Gestern Abend, erzählt er, habe er wie-
der eine Studie gelesen, das brauche er
zum Einschlafen. Sie befasste sich mit posi -
tivem Denken. »Ich halte mich mit negati-
ven Gefühlen nicht auf, das wäre nur Zeit-
und Energieverschwendung«, hat er vor
Jahren mal gesagt. »Wirklich erfolgreiche
Leute machen das nicht.«
In der Politik, glaubt Lauterbach, wür-
den derzeit verstärkt Außenseiter gewin-
nen, die klare Positionen bezögen. Seine
Beispiele: Emmanuel Macron, Donald
Trump und »unser Bürgermeister in Le-
verkusen«. Oder eben Scheer und er.
Dann berichtet er, tief über den Salat-
teller gebeugt, von einer wegweisenden
Entscheidung. »Die Fliege muss weg.«
Lauterbach schaut entschlossen. »Das
Kauzhafte muss weg. Die Gravitas muss
her. Da ist die Fliege nicht hilfreich.«
Die Fliege stehe im Widerspruch zur

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Protestaktion von Klimaschützern*: »Ich bin voll im Stoff«
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