Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
Härte seiner Aussagen. »Sie macht mich
weicher.«
Auf der Rückfahrt von Oldenburg trifft
er beim Umstieg in Hannover seine Kon-
kurrenten. Als Gesprächsthema bieten
sich die Mitbewerber an, die gerade nicht
da sind. Man lästert über Christina Kamp-
mann und Michael Roth. Es herrscht Klas-
senfahrtatmosphäre.
Man müsse unbedingt noch eine 24. Ver-
anstaltung machen, bei der man nur den
Text der anderen Teams spreche, schlägt
Saskia Esken vor. Großes Gegiggel am
Bahnsteig. Dann fordert sie Lauterbach
auf, ihren Text aufzusagen. »Ich bin für
Gleichberechtigung. Deshalb wollte ich ei-
nem Mann eine Chance an meiner Seite
geben ...« Einmal in Fahrt, macht Lauter-
bach weiter. »Norbert hat ein Hobby. Er
sammelt CDs. Steuer-CDs.« Es ist der Gas-
senhauer der Konkurrenz, über den er sich
schon so oft lustig gemacht hat.
Nun imitiert Esken ihn: »Ich bin stolz
und froh, mit Nina Scheer kandidieren
zu dürfen.« »Dass sich deine Partnerin
da nicht beschwert«, murmelt Gesine
Schwan. Sie regt an, dass man unbedingt
zusammen in den Speisewagen müsse.
Das werde lustig. Als der Zug einfährt,
wird klar, dass Lauterbach dieser Gesellig-
keit gern entkommen würde. Während die
anderen zum Speisewagen laufen, schlägt
er die andere Richtung ein.

Zur Halbzeit der Tour findet die Regio-
nalkonferenz im Berliner Willy-Brandt-
Haus statt. Scheer und er sitzen in seinem
Bundestagsbüro zur Vorbesprechung, ei-
nem großen Büro mit Blick auf die Spree.
Mit dem Posten als Fraktionsvize wird er
demnächst auch dieses Büro aufgeben
müssen. »Wo wir bald sind, hängt davon
ab, wie die Kandidatur ausgeht.«
Heute sei man beim Establishment zu
Gast, sagt Lauterbach mit ähnlicher Ver-
achtung, wie die Anhänger Donald
Trumps über den vermeintlichen Sumpf
in der Hauptstadt Washington reden. Das
Ressentiment beruht auf Gegenseitigkeit.
In der Bundestagsfraktion und im Willy-
Brandt-Haus wird Lauterbach wegen sei-
ner radikalen Positionen zunehmend als
»verrückt« dargestellt. Wahlweise auch als
»unehrlich, rein taktisch«. Über Nina
Scheer heißt es, sie müsse ständig heulen.
Im Willy-Brandt-Haus beginnt Scheer
konzentriert, das ist bei ihrer Vorliebe für
Bandwurmsätze nicht immer der Fall.
Aber Lauterbach, der sehr klar und poin-
tiert reden kann, verhaspelt sich gleich im
Eingangsstatement. »Ich bin dankbar und
stolz, diese Kampagne gemeinsam mit
Nina Scheer betreiben zu können, obwohl
sie einen ganz zentralen Nachteil hat:
Sie bringt etwas, also einen Nachteil hier
mit ...« Er ist aus dem Konzept, stottert:
»Sie ist keine gute ...« Er sucht nach Wor-


ten, Pause, »... Drescherin leerer Phrasen.«
Und dann der Nachsatz: »Trotzdem hab
ich mich für sie entschieden.« Das Gön-
nerhafte in dieser Aussage wird von allen
bemerkt, die Berichte in den Medien fallen
überwiegend negativ für sie aus.
Später klingt Lauterbach geknickt. Er
weiß um seine Fehler. Kurz vor der Veran-
staltung erfuhr er, dass sein Vater zusam-
mengebrochen ist. Ein Tumor wurde ent-
deckt. Keine Heilungschancen. »Der Vor-
arbeiter, dessen Sohn ich bin und dessen
Lebenswirklichkeit ich immer wieder be-
schreibe, der stirbt gerade.«
Berlin ist der Tiefpunkt ihrer Kampa-
gne, der Abend hat sie verunsichert. Am

nächsten Tag besucht Lauterbach Scheer
zu Hause für eine spontane Krisensitzung.
»Wir haben uns wieder gefangen«, sagt
er danach auf der gemeinsamen Zugfahrt
nach Hamburg. Sie hätten ihre Schlüsse
aus dem verpatzten Abend gezogen. Klar
sei, dass er wieder kämpferischer auftreten
müsse. »Ich war gestern persönlich ge-
schwächt.« Und auf keinen Fall werde er
noch einmal sagen, dass er sich für Nina
entschieden hätte. Er legt die Hand auf ih-
ren Arm. »Das war ein idiotischer Satz, ein
schwachsinniger Fauxpas.« Der Lernpro-
zess in Sachen Doppelspitze geht voran.
Man habe aber gesehen, dass es in
Deutschland ein ähnliches Phänomen

40 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Stoppuhr bei Regionalkonferenz in Braunschweig: »Man sieht die Scheißuhr, die lief ständig«
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