Der Spiegel - 26.10.2019

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Weisweiler

A


m Abend vor der Blockade bear-
beitet Jonas Meyer* seine Finger-
kuppen mit einer Nadel. Er ritzt
die obere Hautschicht an und ver-
schließt die Rillen mit Sekundenkleber.
Die Polizei soll später keine Fingerabdrü-
cke von ihm nehmen können. Meyer
schmiert sich Brote und verstaut sie in sei-
nem Rucksack. Er packt auch eine Schutz-
maske ein, wegen des Kohlestaubs.
Es ist gegen zwei Uhr in der Nacht, als
Meyer und seine Mitstreiter zum Braun-
kohlekraftwerk in Weisweiler schleichen,
einem Ort zwischen Köln und Aachen. Als
Meyer in der Dunkelheit an einer unebe-
nen Stelle springt, knickt sein linker Fuß
weg. Es knackst. Meyer geht weiter, trotz
der Schmerzen, so kurz vor dem Ziel will
er nicht aufgeben.
Um 4.30 Uhr drücken die Umweltakti-
visten an einer Stelle den Zaun nieder, der
das Kraftwerksgelände umgibt. Dann ge-
hen sie zu den sogenannten Grabenbun-
kern, wo die Braunkohle aus dem Tagebau
ankommt und über Förderbänder ins Kraft-
werk gelangt. Die Gruppe besteht aus gut
einem Dutzend Aktivisten. Sie ziehen die
Reißleinen an den Kohleförderanlagen und
bringen sie zum Stehen. Manche Aktivis-
ten ketten sich aneinander und legen
sich auf die Bänder, andere binden
sich an den Stahlverstrebungen der
Kohlebagger fest. So erzählt es
Meyer, 37, bei einem Treffen, so
steht es auch in einer Anklage
der Staatsanwaltschaft Aachen.
Die Aktivisten errichten ein
Gestell aus Aluminiumstangen,
mehrere Meter hoch, ein soge-
nanntes Dreibein, das sie auf die
Förderbänder stellen. Meyer klet-
tert an der Konstruktion nach oben und
legt sich in eine Art Hängematte, die er an
den Alustangen befestigt hat. An dem
Dreibein flattert ein Banner: »Mach lieber
blau statt Tagebau!« Gegen fünf Uhr ste-
hen die Maschinen still, die Gruppe hat
das riesige Braunkohlekraftwerk ausge-
knipst wie einen Lichtschalter.
Die Blockade am 15. November 2017
in Weisweiler gilt als ein Meisterstück in
der Geschichte der Umweltproteste in
Deutschland, zumindest sehen die Akti-
visten das so. Zum ersten Mal, sagen sie,
sei es der Bewegung gelungen, ein Kraft-


  • Name geändert.


werk in kurzer Zeit lahmzulegen. Meyer
spricht von einem »historischen Akt des
Widerstands und der Selbstermächti-
gung«, die Gruppe habe ein Zeichen ge-
setzt, dass der Mensch die Klimakatastro-
phe nicht tatenlos hinnehmen müsse.
Für andere jedoch handelt es sich um
eine Straftat, um Ökoterror. Der Energie-
konzern RWE, der das Kraftwerk in Weis-
weiler betreibt, hat sechs der Aktivisten
auf zwei Millionen Euro Schadensersatz
verklagt. Wie der Zivilprozess ausgeht,
hängt auch vom Strafverfahren ab, das
es in dieser Sache gibt: Die Staatsanwalt-
schaft Aachen hat Anklage gegen die
Blockierer erhoben, ihnen wird Hausfrie-
densbruch vorgeworfen, dazu Störung
öffentlicher Betriebe und Widerstand ge-
gen Vollstreckungsbeamte.
Der Prozess beginnt kommende Woche
beim Amtsgericht in Eschweiler. Es dürfte
ein kompliziertes Verfahren werden, denn
die mutmaßlichen Opfer und Täter sehen
in der jeweils anderen Seite die wahren
Verbrecher. Der Prozess wirft grundsätz-
liche Fragen auf: Können illegale Aktionen
legitim sein, wenn die Regierung ihre
selbst gesetzten Klimaschutzziele zu ver-
fehlen droht? Wie weit darf Protest ge-
hen, um die Welt zu retten?
Der Einsatz für den Klima-
schutz hat inzwischen viele Ge-
sichter. Seit zwölf Monaten ge-
hen die Demonstranten von
»Fridays for Future« auf die Stra-
ßen. Die Aktivisten von »Ex-
tinction Rebellion« blockierten
vor drei Wochen in Berlin Brü-
cken und Kreuzungen, sie kleb-
ten ihre Hände an den Fenster-
scheiben der CDU-Zentrale fest.
Doch manchen reicht die sanfte Art der
Rebellion nicht mehr. Sie setzen auf dra-
matische Störaktionen, weil sie glauben,
dass außergewöhnliche Situationen außer-
gewöhnliche Maßnahmen erfordern. Die
Zeit für diese Art von zivilem Ungehorsam
ist günstig, die stille Unterstützung ver-
mutlich groß, schließlich geht das Klima-
paket der Bundesregierung fast der Hälfte
der Bevölkerung nicht weit genug.
Ungefähr fünf Stunden verbringt Meyer
an seinem Dreibein über den Kohleförder-
bändern. Er schluckt eine Schmerztablette,
packt seine Brote aus. Die Aktivisten las-
sen sich fotografieren und filmen, über
Twitter dokumentieren sie die Blockade,

ihr Hashtag: #Weshutdown. Weil die Koh-
lezufuhr unterbrochen ist, muss RWE sei-
ne Kraftwerksblöcke zunächst in Schwach-
last betreiben, später werden sie ganz vom
Netz genommen.

Die Polizei muss ihre Technischen Ein-
heiten anfordern, um die Aktivisten von
den Bändern und Baggern holen zu kön-
nen, rund 70 Personen sind an dem Ein-
satz beteiligt. Die Blockierer werden mit
Gipssägen aus den Armschienen heraus-
geschnitten, die Polizei lässt Hebebühnen
anrücken, damit die Einsatzkräfte an die
Personen in den Baggern kommen. Es
wird ein Gerüst aufgebaut, um Meyer von
seinem Dreibein herunterzuholen. Dann
wird er in Gewahrsam genommen.
Meyer kommt ins Krankenhaus, die
Ärzte diagnostizieren ein gebrochenes
Sprunggelenk. Noch am selben Tag wird
er operiert. Meyer weigert sich, den Poli-
zisten seine Personalien zu nennen. Ein
Mitarbeiter des Krankenhauses habe sei-
nen Namen später an die Ermittler weiter-
gegeben, glaubt er.
Fast zwei Jahre nach der Aktion spa-
ziert Meyer in Köln am Rheinufer entlang.
Er arbeitet in der Behindertenpflege. Der
Aufdruck auf seinem Pullover zeigt einen
Erdball, der sich auflöst und dessen Reste
durch eine Sanduhr fließen.
Ein gebrochener Fuß, ein Strafverfahren
und eine Millionenklage, bereut er irgend-
was? Meyer schüttelt den Kopf. »Dieses
Kraftwerk ist eine krasse Höllenmaschi-
ne«, sagt er, »das Ding pustet an einem
Tag so viel CO
²
raus, wie eine halbe Mil -
lion Menschen in Äthiopien in einem gan-
zen Jahr verursachen.« Oft fühle er sich
ohnmächtig, wenn er an die Zerstörung
der Welt denke. »Aber mit der Aktion ha-
ben wir einen Moment geschaffen, in dem
wir dieser Scheiße ein bisschen was entge-
gensetzen konnten«, sagt Meyer.
Es sei um den symbolischen Effekt ge-
gangen, aber die Blockade habe auch
»ganz direkt die Emission von Treibhaus-
gasen verhindert«, jedenfalls in Weisweiler.
Das Kraftwerk habe an jenem Tag 26 000
Tonnen weniger CO
²
als üblich ausge -
stoßen, sagt Meyer, das ließe sich anhand
der Zivilklage von RWE errechnen, in der
angegeben sei, wie lange kein Strom pro-
duziert wurde.
Ein paar Tage nach der Blockade trafen
sich die Aktivisten in einer Wohnung, sie

48 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Deutschland

Ausgeschaltet


UmweltDer Stromriese RWE verklagt Aktivisten auf zwei Millionen Euro Schadensersatz, weil sie
ein Kraftwerk blockiert haben. Wie viel Radikalität ist erlaubt, um das Klima zu retten?
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