Der Spiegel - 26.10.2019

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Lautenschlägers als EZB-Direktorin wer-
den soll.
Lagarde sagt dazu nur, dass es manch-
mal stark mache, unterschätzt zu werden.
Wenn man sie auf ihre neue Aufgabe
anspricht, auf das Zerwürfnis in der EZB,
erinnert sie daran, wie groß die Aufgabe
schien, als sie vor acht Jahren die Führung
des IWF übernommen hatte. Sie will die
Aufgabe bei der EZB nicht kleinreden.
Aber der IWF mit seinen 189 Mitglieds-
ländern sei ebenfalls keine einfache Orga-
nisation gewesen. Mit Dominique Strauss-
Kahn hatte der IWF gerade den dritten
Chef in Folge vor Ablauf der regulären
Amtszeit verloren, wegen des Vorwurfs
der versuchten Vergewaltigung. Das Straf-
verfahren wurde später eingestellt.
Und dann ist es nicht so, dass Lagarde
jemals Scheu vor Wandel gehabt hätte.
Beim IWF baute sie die Kommunika -
tionsabteilung zur zentralen Schaltstelle
um. Die Positionen der Fachabteilungen,
kleine Fürstentümer, die am liebsten un-
abhängig voneinander agierten, wurden
zusammengeführt und moderiert. Die
Kommunikationsabteilung entschied von
da an nicht nur, wie etwas verkauft wurde,
sondern was. Gerry Rice, der Sprecher des
IWF, wurde über die Jahre ihr wichtigster
Vertrauter, heißt es.
Wird sie das bei der EZB wieder so ma-
chen? »Ich suche immer nach der gemein-
samen Basis, um die verschiedenen Mei-
nungen zusammenzubringen«, sagt sie.
»Wir sollten uns jetzt darauf konzentrieren,
wie wir künftig wieder eine gemeinsame
Linie finden können.«
Das passende Instrument dafür hat sie
ebenfalls schon im Blick: eine Revision al-
ler geldpolitischen Maßnahmen, mit der
sie umgehend nach ihrem Amtsantritt be-
ginnen will. »Mein Ziel ist es, die Mitglie-
der des Zentralbankrates dabei frühzeitig
einzubeziehen. Wir werden Nutzen und
Risiken der verschiedenen Optionen un-
voreingenommen untersuchen.«
Wie erfolgreich Christine Lagarde darin
ist, Konflikte zu lösen, zeigt ihr Verhältnis
zu Wolfgang Schäuble (CDU), den sie aus
gemeinsamen Ministertagen kennt. Ge-
wöhnlich verbittet Schäuble es sich, von
anderen Menschen in seinem Rollstuhl
geschoben zu werden. Bei Lagarde aber
macht er eine Ausnahme, sie darf ihn öf-
fentlich herumfahren.
Meist soll damit illustriert werden, welche
Privilegien Schäuble seiner Kollegin ein-
räumt. Lagarde dagegen lässt das so nicht
stehen: Bei ihr wird daraus die Geschichte,
wie Schäuble sie einmal heldenhaft aus ei-
ner peinlichen Situation gerettet habe.
Sie hatte sich nämlich ein Glas Rotwein
über die Hose geschüttet, und weil sie kei-
ne andere Möglichkeit sah, den Fleck zu
verdecken, fragte sie Schäuble, ob sie ihn
schieben dürfe, und Schäuble willigte ein.


Wenn man ihn heute nach seinen Kon-
flikten mit Lagarde fragt, in der Griechen-
landkrise, in der Schuldenpolitik, bei so
vielen Fragen, in denen die beiden Welten
auseinanderlagen, sagt er: »Ich hatte mit
ihr nie große Meinungsverschiedenheiten.
Lagarde verbindet französische Eleganz
mit amerikanischer Härte. Wir sind Juris-
ten, und so konnten wir uns stets auf der
Ebene von Lawyern verständigen.« Schäu -
ble sagt »Lawyer«, nicht »Anwälte«, was
weltläufiger klingt.
Es ist ihm kein schlechtes Wort über La-
garde zu entlocken, die zu seinem 70. Ge-
burtstag eigens nach Berlin flog, auf ihn
eine Laudatio zu halten. Als er im Kran-
kenhaus lag, schickte sie Blumen, als er er-
kältet war, schenkte sie ihm ein Glas Honig
aus ihrem Bienenstock.
Wenn Lagarde jemanden umgarnt,
macht sie es richtig. Sie muss sich dabei
nicht unbedingt selbst in den Vordergrund
spielen. Sie lässt lieber die anderen gut
aussehen, damit sie bekommt, was sie will.

Nachdem Donald Trump zum Präsiden-
ten der Vereinigten Staaten gewählt wor-
den war, ein Mann, der in fast allem dem
internationalen Geist des IWF wider-
spricht, nutzte sie ein zufälliges Treffen
mit Ivanka Trump auf den Fluren des Wei-
ßen Hauses für eine kleine Schmeichelei.
Vielleicht könne man sich einmal treffen,
sagte sie. Man kenne sich ja nur aus dem
Fernsehen. Kurz darauf trat sie mit Ivanka
Trump und Angela Merkel beim Berliner
Frauengipfel auf.
Für gutes Klima zu sorgen ist eine der
Methoden Lagardes. Die andere ist, ihre
Fachleute geschickt einzubeziehen. Auch
beim IWF hat sie stets auf den Rat ihrer
Ökonomen gehört. Im Gegenzug müssen
die Experten flexibel genug sein, auf ihre
Bedürfnisse einzugehen. Nicht nur Beden-
ken vortragen, sondern auch Lösungen
präsentieren.
Auf Nachfrage, was sie einem raten wür-
de, wenn man von einem Tag auf den an-
deren eine Organisation wie den IWF füh-
ren müsste, antwortete Lagarde vor ein
paar Jahren mit der Geschichte von Ein-
steins Fahrer. Der hatte einmal mit dem
großen Physiker die Rollen getauscht. Der
Fahrer hielt Einsteins Vortrag, während
Einstein im Publikum saß. Und als eine
schwierige Frage kam, sagte der Fahrer:
Fragen Sie bitte den Mann im Publikum.
Das ist auch ihre Philosophie. Hauptsache,
man hat immer einen Einstein, der einem
aus der Patsche helfen kann.
Der Chefvolkswirt der EZB heißt Philip
Lane. Er ist Ire, und das ist schon mal ein
Vorteil, weil Lagarde in ihrem Berufsleben
immer prima mit Iren ausgekommen ist,
wie sie erzählt. Lane ist aber auch ein Ver-
trauter Draghis. Beide gehören derselben
Ökonomenschule an, beide gelten als geld-
politische »Tauben«, die der Wirtschaft lie-
ber zu viel als zu wenig Liquidität zukom-
men lassen. Und so sitzt der Professor nun
hinter seinem weiß glänzenden Bespre-
chungstisch mit dem spektakulären Blick
über Frankfurts Banken-Skyline und sagt:
»Unsere Geldpolitik wirkt.« Es habe sich
lange Zeit »alles in die richtige Richtung
bewegt«. Kredite, Wachstum, Beschäfti-
gung, Inflation: Alles zog an, nachdem die
EZB die Zinsen gesenkt und ab Mitte des
Jahrzehnts für Hunderte Milliarden Euro
Staatsanleihen gekauft hatte.
Wahrscheinlich wäre es so auch weiter-
gegangen, wenn die USA nicht den Han-
delskonflikt mit China losgetreten und die
Briten für den Brexit gestimmt hätten.
Nun gebe es leider »eine Phase langsame-
ren Wachstums«, sagt Lane, die aber nicht
mit einer Rezession verwechselt werden
dürfe. Er sagt: »Ich sehe derzeit kein Ende
der Aufwärtsentwicklung, sondern eine
Unterbrechung.«
Die Frage ist nur: Wenn die Lage nicht
so schlimm ist, warum musste die EZB

72 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Wirtschaft

PAUL-LANGROCK / AGENTUR ZENIT
EZB-Hauptquartier in Frankfurt am Main
»Eine Phase langsamen Wachstums«

Rekordtief
EZB-Leitzins, in Prozent

Quelle: EZB

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