Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
hen. Deshalb will er nun auch erneut eine
Neuwahl erzwingen.
Aber wird er die wirklich gewinnen?
Nach einer Woche wie dieser ist das
kaum zu glauben. Wider alle Erwartungen
kehrte Johnson zwar mit einem, wie er be-
hauptete, »neuen großartigen Deal« aus
Brüssel zurück. Allerdings nur, um daheim
in London festzustellen, dass er zwar die
Brextremisten in seiner konservativen Par-

tei befriedigt, eine Mehrheit in allen ande-
ren politischen Lagern jedoch vor den
Kopf gestoßen hatte.
Und so endete die Woche damit, dass
Johnson keine Möglichkeit mehr hatte,
den 31. Oktober als Brexit-Datum zu hal-
ten. Stattdessen musste er abwarten, wie
lange die EU den ersehnten Austrittstag
diesmal nach hinten verschieben würde.
Dabei hatte der Konservative geschworen,

»lieber tot im Graben« zu landen, als das
jemals zuzulassen.
Zwischenzeitlich konnte der Premier-
minister zwar frohlocken, weil sich im Par-
lament zum ersten Mal überhaupt eine
Mehrheit gefunden hatte, die für ein Bre-
xit-Gesetz votierte, mit 329 zu 299 Stim-
men. Die euphorischen Schlagzeilen, die
darauf folgten, waren jedoch verfrüht.
Denn etliche der Jasager im Unterhaus
hatten nur deshalb mitgespielt, um John-
sons Gesetz im weiteren Verfahren wieder
durch Ergänzungsanträge durchlöchern
zu können.
Was widersinnig wirkt, folgt einer inne-
ren Logik. Es geht um die alles überwölben-
de Frage: Kann man Johnson vertrauen?
Auch viele seiner Parteifreunde antworten
darauf: niemals. Gründe dafür fanden sich
allein in den vergangenen Wochen zuhauf.
So beteuerte der Trickser, er habe nicht die
Absicht, das Parlament in eine Zwangspau-
se zu schicken, nur um sie dann – gesetzes-
widrig – doch zu verfügen. Seinem De-
facto-Koalitionspartner, der unionistischen
Splitterpartei DUP, versprach der 55-Jähri-
ge, in Zukunft keine Zollgrenze zwischen
Großbritannien und Nordirland zuzulassen.
Aber genau damit hat er sein neues Abkom-
men mit der EU erkauft.
Je näher der 31. Oktober rückte, desto
größer wurde daher die Panik im Unter-
haus. Was, fragten sich viele, ist von John-
sons Absichtserklärung zu halten, die EU
an Halloween nicht ohne ein Abkommen
verlassen zu wollen?
Für eine Mehrheit im Parlament ist dies
die eine, wenn nicht einzige Prämisse, die
parteiübergreifend gilt: Ein sogenanntes
No-Deal-Szenario wollen die meisten Ab-
geordneten vermeiden. Diesem Ziel galten
fast alle Verfahrenstricks und gesetzgebe-
rischen Finessen, mit denen die Abgeord-
neten Johnsons Regierung zuletzt ausma-
növrierten. Es ging darum, ihm jede legale
Möglichkeit zu nehmen, das Land jetzt
oder in naher Zukunft ohne Abkommen
aus der Europäischen Union zu führen.
Nach einem weiteren atemlosen Sitzungs-
marathon ist das fürs Erste gelungen.
Johnsons Optionen sind damit auf ein
Minimum geschmolzen. Der Mann, der
die glorreiche Zukunft des Vereinigten
Königreichs so wortgewaltig beschworen
hat wie kein anderer, wirkt in diesen Ta-
gen dünnhäutig und missmutig. Die erste
Schlacht um den Deal, den er aus Brüssel
mitbrachte, hat er verloren. Der eigent -
liche Kampf steht aber noch bevor.
Denn im Grunde führt nun jeder Weg
zu Neuwahlen. Johnson hat dabei gute
Karten. Und das nicht nur, so Ivan Rogers,
»weil ihm wahlkämpfen sehr viel leichter
fällt als zu regieren«.
Am Donnerstagabend kündigte Johnson
an, sein mit Brüssel ausgehandeltes Schei-
dungsabkommen noch einmal durchs Un-

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019^89

DAN KITWOOD / GETTY IMAGES

hofft, dass kein normaler Mensch mehr die Hintergründe der Abnutzungsschlacht begreift

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