Der Spiegel - 26.10.2019

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terhaus peitschen zu wollen. Gelänge ihm
das, könnte er in anschließenden Neu -
wahlen als derjenige triumphieren, der
sein Land in die lang ersehnte Freiheit
geführt hat.
Dass diese Freiheit die britische Wirt-
schaft voraussichtlich viele Milliarden
Pfund kosten würde, fällt für die brexit-
trunkenen Engländer nicht ins Gewicht.
Johnson wäre dann der Mann, der seiner
Nation, so der alte Referendumsslogan,
»die Kontrolle zurückgegeben« hätte.
Es wäre der süßeste Sieg für Johnson,
der in seiner Biografie über Winston Chur-
chill davon schwärmte, wie ein Mann al-
lein das Schicksal seines Landes entschied.
Allerdings haben seine Gegner im Parla-
ment schon seit Wochen weitere Metho-
den ausgeheckt, um Johnson den Weg zu
seinem Happy End zu verbauen.
Daher bereitet sich der Premier seit
dieser Woche intensiv darauf vor, notfalls
ohne Abkommen in den Wahlkampf zu
ziehen. Nach seinem Willen soll das
noch vor Weihnachten geschehen, im Ge-
spräch ist ein Termin am 12. Dezember.
Dann will er die Mehrheitsverhältnisse
im Parlament endlich zu seinen Gunsten
ver ändern.
Bereits am Dienstag hatte er im Unter-
haus angekündigt, der verfahrene Streit
müsse letztlich von den britischen Wäh-
lern entschieden werden. Sie sind in sei-
nen Worten »unsere Herren, das Volk«.
Noch bis vor Kurzem betrachteten die
Strategen in 10 Downing Street diese
Variante als politischen Selbstmord. Mit-
ten im ungelösten Brexit-Streit mit ei-
nem Mann ins Rennen zu gehen, der sein


zentrales Versprechen nicht eingelöst
habe, werde ins Desaster führen, so die
Befürchtung.
Inzwischen aber scheint es, als zahle
sich die seit Wochen anhaltende Kam -
pagne aus, Johnson als einzig wahren
Mann des Volkes zu inszenieren. Umfra-
gen zufolge liegen Johnsons Tories bis zu
15 Prozentpunkte vor der Labour-Partei.
Die beispiellose Niederlagenserie im Par-
lament, die Verurteilung durch den Su -

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Ausland

PHILIPP VON DITFURTH / DPA
Brexit-Partei-Chef Farage: Hohepriester der EU-Hasser

Stimmungsumschwung


»Glauben Sie im Nachhinein, dass es richtig
oder falsch war, dass die Briten für den
Brexit gestimmt haben?«


  1. Oktober 2019


42 %


46 %


falsch

richtig

47 %


41 %



  1. August 2016


1722 (2016) und 1689 (2019) Befragte; an 100 Prozent fehlende:
»Weiß nicht«; Quelle: YouGov

52


Prozent der Briten stimmten
beim Referendum 2016
für den Brexit. Mehr als drei
Jahre später zweifeln viele
an der Entscheidung.

preme Court, die Lügen und Halbwahr-
heiten in den Brexit-Verhandlungen, die
nicht geklärten Anschuldigungen, John-
son habe eine angebliche frühere Geliebte
mit Steuergeld protegiert: Sie haben dem
Regierungschef nicht geschadet – eher
im Gegenteil.
Die Regierung setzt offenbar zu Recht
darauf, dass kein normaler Mensch mehr
die Hintergründe der Abnutzungsschlacht
im Parlament begreift, die nun schon seit
dreieinhalb Jahren tobt. Ein gutes Beispiel
lieferte der Dienstag dieser Woche: Da
lehnte es das Unterhaus ab, das folgenrei-
che Brexit-Gesetz im Hauruckverfahren
durchzuschleusen. Gerade mal drei Tage
hatte die Regierung dafür angesetzt, damit
sollte den Abgeordneten weniger Zeit blei-
ben als einst für ein Gesetz über Wildtiere
in Wanderzirkussen. Das machten die Par-
lamentarier nicht mit.
Johnson hofft offenbar, der Durch-
schnittswähler werde davon nur wahr -
nehmen, dass eine EU-hörige Quasselbu-
de dem britischen Volk wieder mal den
Weg in die Unabhängigkeit verbaut habe.
Schon vor Monaten beschuldigte er Ab-
geordnete, »Kollaborateure« der EU zu
sein. Ein Gesetz, mit dem das Unterhaus
ein No-Deal-Debakel ausschließen wollte,
nannte er »Kapitulationsgesetz«. Seither
bekommen Parlamentarier Todes- und
andere Drohungen, deren Absender sich
ausdrücklich auf Johnsons Wortwahl be-
ziehen. Seine Hintersassen ließ er ge -
währen, als sie die Richter des Supreme
Court als willige Helfer von EU-Freunden
anprangerten.
Menschen wie Michael Heseltine – ein
in Ungnade gefallenes Urgestein der Kon-
servativen – glauben, der Regierungschef
habe »vom ersten Tag im Amt an Neuwah-
len angestrebt«. Nun plane er, die Men-
schen mit der Angst vor Kriminellen und
der Wut auf seine politischen Gegner zu
manipulieren.
»Das Parlament, die Elite, die da oben
gegen euch, das Volk«, das werde John-
sons Wahlkampfmotto sein, glaubt Hesel-
tine. Und große Teile der britischen Presse
würden wie so oft als unkritische Cheer-
leader danebenstehen.
Allerdings: Problemlos wird Johnson
seine Neuwahlen nicht bekommen. Will
er nicht zurücktreten oder ein heikles Ge-
setzesmanöver riskieren, braucht er dafür
eine Zweidrittelmehrheit im Parlament –
und damit die Zustimmung von Labour-
Abgeordneten und deren Chef Jeremy
Corbyn. Zweimal schon ist er mit dem Ver-
such gescheitert, das Parlament in eine
Neuwahl hineinzudrängen; beide Male
verweigerte ihm Labour diesen Wunsch.
Womöglich kommt es am kommenden
Dienstag erneut zum Schwur.
In Corbyns Partei ist man sich uneins.
Viele fürchten, die eigene unklare Haltung
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