Der Spiegel - 26.10.2019

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DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019 91


 Für einen Mann, dessen Werk der ver-
gangenen Jahre fürs Erste mal wieder im
britischen Unterhaus gescheitert ist, ist
Michel Barnier recht gelassen. Der Chef-
unterhändler der Europäischen Union
legt in der »Members’ bar« im Straßbur-
ger Europaparlament einen Stapel blauer
Mappen auf den Tisch und ein Handy
im abgewetzten Lederfutteral, dann setzt
er sich. »Geduld«, sagt Barnier, »Geduld
und Flexibilität« seien Tugenden, die
beim Brexit unverzichtbar seien.
Barnier muss gleich zurück nach Brüs-
sel, die EU-Botschafter tagen. Es geht
um die Frage, um wie viele Wochen oder
Monate sie den Austrittstermin verschie-
ben wollen. Bei der Abstimmung am

Dienstag hatten die britischen Parlamenta-
rier den Plan ihrer Regierung, am 31. Okto-
ber auszutreten, mal wieder zerschossen.
Barnier aber ist in Gedanken längst
bei seiner nächsten Aufgabe: Die EU-
Kommission hat entschieden, dass er
sich in den kommenden Jahren auch um
die zweite Phase der Brexit-Gespräche
kümmern soll – dann, wenn das Austritts-
abkommen beschlossene Sache ist.
Der Brexit hat viele Verlierer, Michel
Barnier gehört nicht dazu. Sicher, sein
Job verhinderte, dass er seinen Traum
wahrmachen und als Spitzenkandidat
der Europäischen Volkspartei bei der
Europawahl antreten konnte. Und als
die Staats- und Regierungschefs in einer
langen Verhandlungsnacht Anfang Juli
darüber grübelten, wer nächster Kom-
missionschef werden sollte, zogen sie
Ursula von der Leyen dem Franzosen in
letzter Minute vor.
Doch nun ist klar, dass Barnier auch in
der nächsten Kommission eine entschei-

dende Rolle spielen wird. Er bleibt Brüs-
sels »Mr Brexit«.
Mit einer »Task Force« von rund
70 Mitarbeitern soll er dann Lösungen
für die künftigen Beziehungen der EU
zu den Briten erarbeiten. Die Verhand-
lungen dürften so dramatisch bleiben wie
bisher. Am Ende soll ein Freihandelsver-
trag stehen, der Sozial- oder Umweltdum-
ping verhindert und die europäischen Bei-
hilferegeln schützt. Geklärt werden muss
auch, wie die EU und die Briten bei der
Fahndung nach Verbrechern und Terroris-
ten zusammenarbeiten und wie sie außen-
politischen Fragen abstimmen.
»Die Konsequenzen des Brexits sind
zahllos und werden oft unterschätzt«,
sagte Barnier am Dienstag im Europa -
parlament. Das gilt auch für das künftige
Abkommen. Selbst wenn die Briten die
Übergangsphase, die nach dem Brexit
einträte, verlängerten, müsste der Frei-
handelsvertrag – Stand heute – bis Ende
2022 fertig sein. Nicht viel Zeit für ein
Abkommen dieser Größenordnung.
Es droht womöglich ein schlimmeres
Drama als jetzt beim Austrittsvertrag: Das
Freihandelsabkommen muss nicht nur
vom Europaparlament und vom britischen
Unterhaus abgesegnet werden, sondern
von allen Parlamenten der dann 27 EU-
Mitglieder. Bereits die Debatte um das
Ceta-Abkommen mit Kanada im Herbst
2016 hatte gezeigt, wie zäh das Prozedere
werden kann. Damals hielt ein Veto
des wallonischen Regionalparlaments die
Unterzeichnung monatelang auf.
Barnier sagt, er habe vorgesorgt. Er
pflegte von Anfang an einen engen
Draht zu den EU-Parlamentariern, aber
auch zu den Abgeordneten in den Mit-
gliedstaaten. Dreimal habe er bislang in
jedem Parlament vorbeigeschaut, sagt
Barnier. Sogar politische Gegner finden
das gut: Barnier habe »kompetent
und respektvoll auch unsere Positionen
vertreten«, lobt Martin Schirdewan.
Er sitzt für die Linke in der Brexit-Steue-
rungsgruppe des Europaparlaments.
Nun also Brexit 2.0: Barnier scheint
gut damit leben zu können. Vorhalte ein-
zelner Parlamentarier, die EU hätte auf
Johnson nicht so weit zugehen sollen,
lässt er nicht gelten. Seine Aufgabe sei
nicht gewesen, den Brexit zu stoppen,
sagt Barnier. »Ich sollte einen Deal aus-
handeln, und ich habe ihn ausgehandelt.«
Peter Müller

EuropaDer Vertrag mit den Briten ist noch nicht beschlossen, da
bereitet Chefunterhändler Barnier bereits seine nächste Mission vor.

Forever Mr Brexit


zum Brexit und Johnsons Verführungs-
kunst könnten dafür sorgen, dass Labour
in eine verheerende Niederlage stolpert.
Bis in die Parteispitze hinein gibt es des-
halb Stimmen, die fordern, Johnson und
seine Rumpfregierung lieber so lange vor-
zuführen, bis ein zweites Brexit-Referen-
dum unausweichlich wird. Für ein solches
Votum, ein »Final Say«, gingen jüngst in
London bis zu eine Million Menschen auf
die Straße.
Für Corbyn ist die Lage prekär: Wie
lange kann ein Oppositionschef vor einer
entnervten Öffentlichkeit verantworten,
keine Neuwahlen zu wollen?
Falls sich Labour am Ende doch ent-
schließen sollte, Neuwahlen zuzustim-
men, wird die entscheidende Frage für
Boris Johnson sein: Wie kann er Nigel Fa-
rage, den Hohe priester der EU-Hasser,
in Schach halten? Der Chef der Brexit-
Partei hat sein Urteil schon vergangene
Woche gefällt: Johnsons Deal, befand
Farage, sei »kein Brexit«. Im »Daily Tele-
graph«, der Hauspostille des Regierungs-
chefs, breitete er auf zwei Anzeigenseiten
seine Gründe aus. Die neuerliche Ver-
schiebung des EU-Austritts wird seiner
zuletzt etwas schwächelnden Politsekte
wieder Auftrieb geben.
Farage, der einen großen Anteil an der
Spaltung der britischen Gesellschaft hat,
wird alles daransetzen, Johnson als billige
Kopie seiner selbst zu zeichnen, als politi-
sches Großmaul, das letztlich von der rei-
nen Brexit-Lehre abgefallen sei.
Schafft die Brexit-Partei ein zweistel -
liges Ergebnis bei Wahlen, könnte John-
sons Traum von der absoluten Mehrheit
platzen und damit die Hoffnung, seinen
Wunsch-Brexit durchs britische Parlament
zu drücken – auch für den Premierminister
birgt eine Neuwahl Risiken.
Die Weichen sind damit gestellt für ei-
nen Wahlkampf, wie ihn die einst so un-
ideologischen Briten noch nicht gesehen
haben. Schon jetzt seien die Tories nur-
mehr eine »umetikettierte Brexit-Partei«,
sagt Ken Clarke, ein Johnson-Kritiker und
ein weiterer ausgebooteter Konservativer
alter Schule. Und kaum jemand werde
Johnson daran hindern können, die Partei
noch weiter nach rechts zu rücken.
Der Premierminister hat sein Schicksal
mit dem Brexit verknüpft, und er ist schon
zu weit gegangen, um sich jetzt noch stop-
pen zu lassen. Es spielt für ihn anscheinend
keine Rolle, wen oder was er auf seinem
Weg noch zerstört.
Ivan Rogers, der Ex-Diplomat, hofft
derweil inständig, dass er wenigstens
diesmal falschliegt. »Wir sitzen tief in
der Scheiße«, sagt er gänzlich undiploma-
tisch. Und: »Ich fürchte, es wird von jetzt
an nur noch schlimmer.« Jörg Schindler


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D. AYDEMIR / ANADOLU AG. / GETTY IMAGES
EU-Unterhändler Barnier
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