Der Spiegel - 26.10.2019

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DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019 95


N


ormalerweise ist das Industriege-
biet von Grays ein verlassener Ort.
Lagerhallen reihen sich aneinander,
umgeben von hohen Zäunen. Meistens
fahren nur Transporter durch die Straßen,
Fußgänger verirren sich kaum hierher.
Doch in diesen Tagen ist das anders.
Ein Dutzend Übertragungswagen steht
zwischen den Lagerkomplexen, Kamera-
leute und Reporter haben sich postiert.
Ihre Blicke richten sich auf eine Absper-
rung, die die Polizei errichtet hat.
In dem Ort östlich von London machte
die britische Polizei in der Nacht zum



  1. Oktober eine grausige Entdeckung:
    39 Leichen, versteckt in dem Container
    eines Lastwagens. Der Polizei zufolge han-
    delt es sich um Chinesen, 8 Frauen und
    31 Männer. Sie sollen versucht haben, ille-
    gal nach Großbritannien einzureisen. Der
    Fall befeuert die Debatte um die Einwan-
    derung neu – und über die möglichen
    Folgen eines Brexits.
    Noch ist unklar, wann Großbritannien
    die EU verlässt und unter welchen Bedin-
    gungen, aber klar ist, dass die ohnehin gut
    gesicherten Grenzen nach dem Austritt
    noch stärker überwacht werden. Viele
    Migranten versuchen nun offenbar, in letz-
    ter Minute auf die Insel zu gelangen.
    In Belgien oder Frankreich harren zahl-
    reiche Menschen aus in der Hoffnung,
    nach England übersetzen zu können. Bri-
    tischen und französischen Medienberich-
    ten zufolge soll die Zahl der Flüchtlinge,
    die sich auf Booten über den Ärmelkanal
    wagen, in den vergangenen Wochen dras-
    tisch gestiegen sein.
    Mitte Oktober wurden an Frankreichs
    Nordstränden die Leichen zweier Iraker
    entdeckt: Die Männer, 17 und 22 Jahre
    alt, hatten offenbar versucht, nach Groß-
    britannien zu fliehen. Frankreich ver -
    stärkte daraufhin seine Kontrollen an der
    Küste. Großbritannien kündigte an, noch
    härter gegen Menschenhändler vorgehen
    zu wollen.
    Doch viele Migranten und Schleuser
    hält das nicht ab. Im Gegenteil: Wenn
    Großbritannien seine Grenzen nach einem
    Brexit schließt, dürfte sich die Lage ver-
    schärfen. Die britische Denkfabrik Social


Market Foundation prophezeit, dass die
Zahl der irregulären Einwanderer nach
dem EU-Austritt dramatisch steigen wird.
Weil die Einreise nach Großbritannien
durch den Brexit erschwert wird, könnten
mehr Menschen gezwungen sein, andere
Wege ins Land zu suchen.
Dem Handelsverband British Interna-
tional Freight Association zufolge versu-
chen schon jetzt jedes Jahr Zehntausende
Migranten, über Häfen nach Großbritan-
nien einzureisen.
Oft sind es Verzweiflungstaten Einzel-
ner: Menschen, deren Asylantrag in
Deutschland oder Frankreich abgelehnt
wurde, verstecken sich in Lastwagen oder
Containern in der Hoffnung, dass die Fah-
rer sie unbemerkt nach Großbritannien
bringen. Immer wieder enden solche Fälle
tödlich, weil Migranten ersticken, erfrieren
oder von Lkw überrollt werden.
Wer es sich leisten kann, greift deshalb
auf Schmuggler zurück, die die Überfahrt
organisieren. Die schärferen Kontrollen
schrecken womöglich manche Menschen-
händler ab. Andere aber weichen einfach
auf gefährlichere Routen aus.
Schon jetzt wählen die Schmuggler
offenbar gezielt Häfen aus, in denen sie
weniger Grenzkontrollen vermuten – auch
wenn die Wege, die sie zurücklegen müs-
sen, dadurch länger werden. Oder sie
verstecken ihre menschliche Fracht noch
besser: Das senkt das Risiko, ertappt zu
werden. Doch das Risiko für die Einge-
schlossenen steigt.
Laut Berichten britischer Medien sollen
die Menschen, die in dem Kühltransporter
in Grays entdeckt wurden, erfroren sein.
Der Fall weckt Erinnerungen an das Jahr


  1. Damals wurden in der britischen
    Hafenstadt Dover die Leichen von 58 Chi-


nesen entdeckt. Sie waren über 18 Stun-
den lang in einem Container eingeschlos-
sen gewesen und schließlich erstickt. Der
Fahrer des Lastwagens hatte die einzige
Luftzufuhr geschlossen – so wollte er
verhindern, dass die Migranten entdeckt
werden.
Der Container, der damals in Dover ge-
öffnet wurde, war ursprünglich im belgi-
schen Zeebrugge verschifft worden. Genau
wie jener Container, den man jetzt in
Grays fand.
Der Fahrer des Wagens von Grays, ein
25 Jahre alter Nordire, wurde festgenom-
men. Ob er von seiner menschlichen
Fracht wusste, ist unklar.
Der Lastwagenfahrer von Dover wurde
im April 2011 wegen Totschlags zu 14 Jah-
ren Haft verurteilt. Großbritanniens Poli-
tiker fordern, mögliche Hintermänner des
aktuellen Schmugglerfalls mindestens mit
derselben Härte zu verfolgen. Der Abge-
ordnete John Woodcock verlangt zu über-
prüfen, ob Menschenschmuggler künftig
wegen Mordes angeklagt werden – so kön-
ne eine lebenslange Haftstrafe verhängt
werden.
Das Joint Council for the Welfare of Im-
migrants, eine Wohltätigkeitsorganisation
für Migranten in Großbritannien, gibt da-
gegen der britischen Regierung eine Mit-
schuld an dem Unglück. Sie habe sichere
und legale Wege ins Königreich versperrt
und die Chinesen so dazu gedrängt, sich
in Gefahr zu bringen.
»Menschen haben immer den Ort ge-
wechselt und werden das auch immer
tun«, schreibt die Organisation in einer
Stellungnahme. »Niemand sollte deshalb
sein Leben riskieren müssen.«
Max Polonyi, Alexandra Rojkov

Tödliche


Umwege


MigrationIn Großbritannien
starben 39 Chinesen in einem
Lastwagen. Viele Migranten ver-
suchen offenbar, noch kurz vor

dem Brexit ins Land zu kommen.


PETER NICHOLLS / REUTERS
Ermittler in Grays: »Niemand sollte sein Leben riskieren müssen«
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