Der Spiegel - 26.10.2019

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ünf Wochen lang hatte Jair Bolso-
naro die Katastrophe, die sein Land
heimsuchte, ignoriert. Er schwieg,
als eine Ölpest Hunderte der
schönsten Strände Brasiliens schwarz färbte
und Vögel, Schildkröten und Delfine star-
ben. Er schwieg, als die Menschen, die vom
Meer leben, Tonnen des klebrigen Stoffs
in Plastiktüten wegschafften. In dieser Krise
überließ der brasilianische Präsident die be-
troffenen Bürger einfach ihrem Schicksal.
Dann, Mitte Oktober, ließ Bolsonaro
ein Video veröffentlichen, in dem er sich
zum ersten Mal ausführlich zu der Ölpest
äußerte, deren Ursache bis heute unge-
klärt ist.
Auf diesen wackeligen Aufnahmen trägt
Bolsonaro ein weißes Hemd, das hinten aus
der Hose rutscht. Er sitzt in seinem Büro
auf einem Stuhl, um ihn herum hocken Mi-
litärs und der Verteidigungsminister. Nach-
dem ein Admiral erklärt hat, dass das Öl
vermutlich aus einem Tanker ausgelaufen
sei, fügt Bolsonaro hinzu, dass chemische
Analysen auf eine Herkunft aus Venezuela
hindeuteten. Das würde auch erklären, twit-
terte er später, warum von all den linken
Organisationen nichts zu hören sei, die er
vor Wochen bereits verdächtigt hatte, die
Feuer im Amazonas gelegt zu haben.


»Könnte es sein«, fragt er, »dass dieser
kriminelle Akt mit der Versteigerung un-
serer Ölfelder zu tun hat?«
Der Präsident erklärt nicht weiter, was
er damit meint. Es genügt ihm, von einer
Verschwörung zu raunen und vage An-
schuldigungen zu machen, anstatt etwas
zu unternehmen und einen Notfallplan zu
präsentieren. Das ist Bolsonaros Strategie.
Wenn er in Bedrängnis gerät, verwandelt
er selbst eine Ölpest in Munition gegen
seine Kritiker. Nicht er trägt demnach die
Verantwortung für diese Katastrophen,
sondern eine linke Opposition, linke
NGOs oder eine sensationsgierige linke
Presse.
Ein Jahr ist es jetzt her, dass Jair Bolso-
naro die Präsidentschaftswahl in Brasilien
gewonnen hat. Seit Januar führt er die
Amtsgeschäfte, und es gibt kaum einen
anderen Staatschef, der das Ansehen sei-
ner Nation derart schnell und nachhaltig
beschädigt hat wie er. Brasilien, das lange
ein aufstrebendes Schwellenland war, ist
heute ein obskurer Pariastaat, in dem
konservative Eiferer einen Feldzug gegen
einen Feind führen, der allein in ihrer
Vorstellung existiert. Um saubere Strände
oder intakte Wälder geht es dabei nicht,
was für Bolsonaro zählt, sind die Inte -

ressen von Großgrundbesitzern, Indus-
triellen und jenen Leuten, die ihm ergeben
sind.
In weniger als einem Jahr vollzog Bol-
sonaro einen gigantischen Umbau der Ver-
waltung, Ministerien wurden mit einer
nahezu staatsstreichartigen Gründlichkeit
gesäubert, Behörden zweckentfremdet
und zerstört. Wer dem Präsidenten illoyal
erschien oder es wagte, ihn öffentlich zu
kritisieren, wurde vor die Tür gesetzt oder
an eine unbedeutendere Position in der
Hierarchie. In einem Land, dessen politi-
sche Elite in den vergangenen Jahren ge-
schreddert wurde, war es Bolsonaro gelun-
gen, sich als Aufräumer zu inszenieren.
27 Jahre lang hatte Bolsonaro als Hin-
terbänkler im Parlament gesessen, wo er
vor allem damit aufgefallen war, dass er
Kollegen beleidigte oder die Folterer der
Militärdiktatur verteidigte. Nach seiner
Wahl ließ er sich im offenen Rolls-Royce
durch Brasília fahren und rief später in sei-
ner Antrittsrede einer aufgepeitschten
Menge zu, er wolle das Land vom Sozia-
lismus befreien: »Unsere Flagge wird nie-
mals rot sein, es sei denn, wir müssen mit
unserem Blut für sie kämpfen.«
Bolsonaro hat als Präsident kein Pro-
gramm, das er abarbeitet. Dafür dirigiert

96 DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019


Ausland

ADRIANO MACHADO / REUTERS

Der Sprengmeister


BrasilienEin Jahr nach der Wahl Jair Bolsonaros verwandelt sich das Land


in einen Pariastaat, geplagt von Krisen und Umweltkatastrophen –
und einem Präsidenten, der nur noch Lakaien um sich herum duldet.
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