Der Spiegel - 26.10.2019

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er eine Armee von Ideologen. Die wich-
tigste Anforderung, die sie erfüllen müs-
sen, ist die Tauglichkeit als Helfershelfer
eines Autokraten, der die Geschichte Bra-
siliens umschreiben und mit seinen Söh-
nen eine neue Dynastie errichten will.
Diese Bolsokratie, deren Konturen lang-
sam sichtbar werden, ist ein Staat, in dem
evangelikale Prediger den Menschen vor-
schreiben, was gut und böse ist. Minder-
heiten, die sich nicht beugen, leben in
Angst. Wissenschaftler, Künstler und Jour-
nalisten stoßen plötzlich wieder an die
Grenzen staatlicher Zensur. Der Rück-
schritt ist so groß, dass es vielen Brasilia-
nern vorkommt, als hätte man sie in die
Zeit des Kalten Krieges zurückkatapultiert.
Durch Brasilien geht heute ein tiefer
Riss. Ein Drittel aller Bürger sieht in Bol-
sonaro einen »Mythos«, der die Werte
christlicher Familien rettet. Für die meisten
anderen aber ist er ein Faschist, vor dem
man im schlimmsten Fall fliehen muss, wie
der Abgeordnete Jean Wyllys, der nach
Bolsonaros Wahl um sein Leben fürchtete
und ins Exil ging.
All die Menschen, die in diesem Text
zu Wort kommen, sind in diesem Jahr mit
Bolsonaro in Konflikt geraten. Wie Wyllys
waren sie wichtig für das Land, als Politi-


Ackerbauern, meint Galvão, fühlten sich
durch Bolsonaro ermutigt, den Wald für
Weiden oder Äcker kahlzuschlagen.
»20 Prozent der ursprünglichen Fläche
haben wir bereits verloren«, sagt Galvão.
»Noch ein bisschen mehr, dann kippt das
System. Dann haben wir überall Savanne.«
Er kratzt sich am Bart. »Wir müssen uns
also um Bolsonaros reiche Hintermänner
sorgen. Auf ihren Böden wächst dann näm-
lich kein Soja mehr.«
Solcher Sarkasmus ist das, was Galvão
bleibt, nachdem sein Leben von einem Tag
auf den nächsten auf den Kopf gestellt wur-
de. Alles, woran er glaubt, zählt heute
nichts mehr. Wissenschaftliche Fakten, Ar-
gumente, Dialog. Als er im Juli öffentlich
erklärte, dass die Abholzung des Waldes
im Vergleich zum Vorjahr um 88 Prozent
gestiegen sei, unterstellte Bolsonaro, die
Zahl sei manipuliert. Der Physiker Galvão,
raunte der Präsident, stehe in Diensten ei-
ner Nichtregierungsorganisation, die ihm
ans Leder wolle.
Galvão war fassungslos. In einem Inter-
view, in dem er die Aussagen des Präsi-
denten auf Kneipenniveau einordnete, for-
derte er ein Gespräch unter vier Augen,
aber dazu kam es nicht. Tage später zitier-
te man Galvão in das Büro des Wissen-

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ker, Forscher, Minister oder Historiker.
Aber in Bolsonaros schöner neuer Welt ist
für sie kein Platz.
Ricardo Galvão, der als einer der besten
Physiker Brasiliens gilt, ist wohl der Be-
kannteste von ihnen. Bis Ende Juli leitete
er das angesehene Weltrauminstitut, das
die Abholzung im Amazonas dokumen-
tiert. Er ist der Mann, dessen Zahlen in
diesem Sommer die Welt aufschreckten.
An einem Tag im September tigert Gal-
vão als Gastredner über die Bühne eines
Hörsaals in Rio de Janeiro, ein asketisch
wirkender 71-Jähriger mit buschigem
Schnäuzer. Für die Studenten, die gekom-
men sind, um ihn zu hören, ist er jetzt ein
Held des Widerstands.
Galvão wirkt leicht genervt. Als er in
der Früh die Zeitung aufschlug, musste er
mal wieder lesen, dass Bolsonaros Außen-
minister den Klimawandel ein linkes Hirn-
gespinst nannte. »Wir sollten morgens
beten«, sagt Galvão. »Lieber Gott, bitte
hilf, dass ich mich heute nicht aufrege.«
Dann wirft er Satellitenbilder an die
Wand, die belegen, dass die Feuer im Ama-
zonas nicht nur auf die Trockenheit zu-
rückzuführen sind, wie Bolsonaro sagt,
sondern vor allem auf eine dramatisch
zunehmende Abholzung. Viehzüchter und

LEO MALAFAIA / AFP

Junge im ölverseuchten Meer im Nordosten Brasiliens
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