Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 ∙Nr. 242∙240. Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Antisemiti smus:Der Judenhass wird in Deutschland politisch instrumentalisiert Seite 12


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PierinVincenz hat Raiffeisen zur drittgrössten SchweizerBank geformt.G. BALLY / KEYSTONE

RAIFFEISENS STARBANKER


Aufstieg und Fall


des Pierin Vincenz


WOCHENENDE,SEITE 45–


Johnson geli ngt in letzter Minute


ein Deal mit Brüssel


Die Staats- und Regierungschef s der EU s timmen dem neuen Brexit -Vertrag zu


Unmittelbar vor dem EU-Gipfel


haben London und Brüsseldoch


noch einAustrittsabkommenfür


die Briten vereinbart. DieFrage


ist nun, ob der von Premierminister


BorisJohnsonausgehandelteText


auch im britischenParlament


Gefallen findet.


CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL


«Wirkennen diese Situation bereits»,
sagte der EU-Chefunterhändler Michel
Barnier am Donnerstagmittag vor der
Presse in Brüssel. Knapp einJahrnach
der Einigung mit der vormaligen briti-
schen PremierministerinTheresa May
verkündete er diesmal ein Übereinkom-
men zumAustritt desVereinigtenKönig-
reichs mit ihrem Nachfolger BorisJohn-
son. «Fair und vernünftig» sei der Deal,
sagteBarnier. BeieinemKurzauftritt mit
Johnson ergänzte der EU-Kommissions-
PräsidentJean-ClaudeJuncker später:
«Es gibtkeinen Grund mehr für eineVer-
längerung irgendwelcher Art.» Die deut-
sche Bundeskanzlerin Angela Merkel
berichtete nach der Brexit-Diskussion in
Brüssel, die Staats- undRegierungschefs
hätten das Abkommen «einstimmig» be-
grüsst. Doch wird esJohnson im briti-
schenParlament mit «seinem»Vertrag
besser ergehen als seinerVorgängerin?
LautBarnier signalisierte der briti-
sche Premierminister gegenüberJun-
cker Zuversicht,eine Mehrheit zu fin-
den. «Ich hoffe sehr, dass die Abgeord-
neten inWestminster nun diesen exzel-
lenten Deal über die Ziellinie bringen»,
sagte BorisJohnson in Brüssel. Doch das
dürfte nicht einfach werden. Denn die
für eine Mehrheit wichtige nordirische
DUP unterstützt das Abkommen nicht.


Zollgrenze in der Irischen See


Zu einem gutenTeil wirdJohnson nun
ironischerweise den von ihm bekämpften
DealseinerVorgängerin in London «ver-
kaufen» müssen.Das Grundgerüstist
nämlich identisch mit dem im November
2018 präsentierten 585-seitigenText. Die
Einigung, sie umfasst 64 Seiten,ersetzt


die einschlägigenPassagen desMay-
Deals. Entsprechendbleiben die finan-
ziellen Verpflichtungen Grossbritan-
niens unverändert, wie auch dieRechte
der Bürger im jeweils anderen Gebiet.
Ferner gibt es ebenfalls eine Übergangs-
phase bis mindestens Ende 2020. Diese
kann maximal bis 2022 verlängert wer-
den. Das heisst,ab dem1. Novemberwird
Grossbritannien zunächst weiter wie ein
EU-Mitglied behandelt, nur darf das
Land nicht mehr mitentscheiden.Dafür
wäre dasKönigreich nochTeil der Zoll-
union, müsste aber auch Beiträge nach
Brüssel überweisen.
Neu soll die Zollgrenzein der Irischen
See verlaufen. Nordirland bleibtregula-
torisch im BereichWaren, Hygienevor-
schriften fürVeterinärkontrollen,Land-

wirtschaft, Mehrwert- undVerbrauchs-
steuern bei Gütern sowie bei den Staats-
beihilfen den einschlägigen EU-Regeln
unterstellt.Was die Zölle betrifft, ist
Nordirland im Gegensatz dazuTeil des
VereinigtenKönigreichs.Damitkann
Johnson wiegewünscht eigenständig
Handelsabkommen abschliessen. Die-
ses Arrangement macht eine «harte»
Grenze mitKontrollformalitäten auf der
irischen Insel, die denFrieden gefährden
könnte, überflüssig.
Ohne harte Grenze gelangen aber
Waren frei von Nordirland nach Irland
und umgekehrt.Umzuverhindern,dass
nicht denRegeln der EU entsprechende
Waren nach Irland gelangen, inspizieren
britische Grenzbeamte die Güter in den
nordirischen Häfen, wobeisie lautJun-
cker von EU-Beamten unterstützt wer-
den dürften. Zudem wird in einemkom-
plexen Prozess das Risiko abgeschätzt,
ob nach Nordirland eingeführteWaren

für diesesLand bestimmt sind oder ob
sie allenfalls von da weiter nach Irland
und damit in die EU gelangen.Komplex
wirdes bei weiterverarbeiteten Gütern.
Bei der Mehrwertsteuer gab es zu-
nächstBedenken wegen Inkohärenzen
zwischen Irland und Nordirland, doch
konnten diese in den nächtelangenVer-
handlungen ausgeräumt werden.
Ein grosses Zugeständnis machte
Brüssel bei derFrage der demokratischen
Beteiligung der Nordiren, was deren«Teil-
Verbleib» in der EU angeht.Das derzeit
suspendierteParlament Nordirlands soll
vierJahre nach Ablauf der Übergangs-
frist, also frühestens wohl 2025, per ein-
facher Mehrheit über die Beibehaltung
der EU-Regeln entscheiden. Bei einem
Nein gäbe es eine zweijährige Übergangs-
periode, danach wäre das Arrangement
hinfällig, eine harte Grenze drohte. Das
läuft letztlich auf einezeitliche Beschrän-
kung des vormaligenBackstops auf mini-
mal sieben bis achtJahre hinaus. Aller-
dings ist man in Brüssel und in Irland
überzeugt, dass die Lösung die nötige Zu-
stimmung erhalten wird.

London macht Zugeständnisse


Grundsätzlich gilt aber, dass vor allem
Zugeständnisse Grossbritanniens eine
entscheidendeRolle für die nun erzielte
Übereinkunft spielten.So rückte John-
son auch von seiner Idee ab, künftig mög-
licherweise Umweltstandards und Arbei-
terrechte der EU unterbieten zukönnen.
Die überarbeitete politische Deklaration
über die künftige Beziehung der EU und
Grossbritanniens sieht zwar eine deutlich
weniger enge Handelspartnerschaft vor,
als sieMay angestrebt hatte. Doch will
London «mitFreude», wieJohnson am
Donnerstagabend sagte, gleicheWettbe-
werbsbedingungen gewähren. Die künf-
tige Beziehung soll um ein ambitioniertes
Freihandelsabkommen ohne Zölle und
Quoten aufgebaut werden.
Als Nächstes müssen nun das briti-
sche und das EuropäischeParlament
den Text gutheissen. In Westmins-
ter wird am Samstag getagt.Tr otz dem
knappen Zeitplan ist man in Brüssel
guter Dinge, dass ein geordneterAus-
tritt am 31.Oktober möglich ist.

Brexit-Abkommen
Zitterpartie im Unterhaus:WerBoris
Johnson nun im Nacken sitzt. Seite 3

Irische Grenze:Ein Zaubertrick bringt
sie zumVerschwinden. Seite 27

Kommentar:EinDurchbruch–aber
die grösste Hürdekommt erst. Seite 11

Kämpfe in Nordsyrien unterbrochen


Die USA verkünden eine Einigung auf Waffenruhe – die Türkei setzt ihre Offensive aus


pab./(dpa)· DieFronten waren verhär-
tet, als der amerikanischeVizepräsident
MikePence am Donnerstag in Ankara
eintraf.Doch dann verkündeten die
USA im Nordsyrien-Konflikt über-
raschend eine Einigung mit derTürkei
auf eineWaffenruhe. DieTürkei habe
zugesagt,ihren Militäreinsatz gegen
kurdischeMilizen fünfTage zu stoppen,
sagtePence am Abend in Ankaranach
Gesprächen mit dem türkischen Präsi-
dentenRecepTayyip Erdogan.
DieTürkei will dieAussetzung der
Kämpfe indes nicht als«Waffenruhe»

verstanden wissen. Die Offensive werde
nicht gestoppt, sondern «unterbrochen»,
sagteAussenminister Mevlüt Cavusoglu.
Wenn dieKurdenmiliz YPG innerhalb
von fünfTagen aus der Grenzregion ab-
ziehe, ihre schwerenWaffen ablege und
ihre Stellungen zerstöre, werde die Of-
fensive aber enden.
Die kurdischen Kämpfer im Nordos-
tenSyriens sind bereit, dieFeuerpause zu
akzeptieren.«Wir werden alles tun, damit
dieWaffenruhe ein Erfolg wird», sagte
derKommandant derSyrischen Demo-
kratischen Kräfte, Mazlum Abdi, am

Donnerstagabend dem kurdischenFern-
sehsenderRonahiTV.
US-VizepräsidentPence stellte der
Türkei inAussicht, dassdie USAihream
Montag verhängten Sanktionen imFalle
einer dauerhaftenWaffenruhe aufheben
würden. Am Montaghatte die amerika-
nischeRegierung Sanktionen gegen tür-
kische Minister und Ministerien verhängt
sowie die Anhebung von Strafzöllen auf
Stahlimporte aus derTürkei und den Ab-
bruch von Beratungen über ein Handels-
abkommen angekündigt.
International, Seite 5

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