Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 18. Oktober 2019


CYRIL ABAD

FOTO-TABLEAU

Wie es Gott gefällt 5/


AlsReverenz an «biblische Grössenverhält­
nisse» verstehtKen Ham die150 Meter lange
Arche Noah, die er aus 7300Kubikmetern
Holz erbauen liess. Bei der strenggläubigen
Gemeinschaft der Amischen fand er versierte
Zimmerleute, die dieserAufgabe gewachsen
waren: Die Arche gilt als die weltweit grösste
selbsttragende Holzkonstruktion. Die
Botschaft, die dasWunderwerk vermitteln soll,
ist allerdings mit mehr als nur einer Prise Salz
zu geniessen: Ham ist ein führenderVertreter
der Kreationisten, die daran festhalten, dass
das Universum, die Erde und die auf ihr
lebenden Geschöpfe genau so entstanden sind,
wie es die Genesis in der Bibelschildert – also
binnen sechsTagen und vor rund 60 00 Jahren.
ImRumpf des Schiffs sind hinter hölzernen
Gittern allerhand ausgestopfte oder nach­
gebildeteTiere untergebracht, auch an der
evolutionsgeschichtlich eher überraschenden
Präsenz von Saurierpärchenkönnen sich die
Besucher ergötzen.Für religiöse Schulen und
Universitäten ist der Ark Encounter – so der
Name des inKentucky gelegenenVergnügungs­
parks –ein beliebtes und aufgrund seines
didaktischenWerts geschätztesAusflugsziel.
Aufgeklärte Steuerzahler im Gliedstaat
knirschen derweil mit den Zähnen, denn
das 102 Millionen Dollar teureProjekt
wurde trotz Protesten auch von der öffent­
lichen Hand mitfinanziert.

Für eine Ökonomie der Nachhaltigkeit


Langfristig denken lernen


Gastkommentar
von KLAUS SCHWAB


Die Angst vor einer weltweitenRezession, der
Handelskrieg zwischen den USA und China, die
Auswirkungen des Brexits und ein gefährlicher
Schuldenüberhang sorgen für eine der stress­
reichsten politischen und wirtschaftlichen Phasen
seit einemJahrzehnt. Gleichzeitig stehen langfris­
tige Ziele wie dieUmsetzung der Nachhaltigkeits­
ziele bis 2020,die Umsetzung desPariser Klima­
abkommens bis 2050 und der Umbau desWirt­
schaftssystems für die nächsten fünfzigJahre an.
Um ein langfristiges Denken anzuregen,
braucht es eine Neuorientierung. Dazu einigeVor­
schläge.
Zunächst müssen wir den wirtschaftlichen
Bezugsrahmen ändern. 75Jahre lang stand das
Bruttoinlandprodukt (BIP) im Zentrum der
Wahrnehmung, und dieVolkswirtschaften dien­
ten alsWerkzeug zur Mobilisierung der Produk­
tion für einen möglichen Krieg. Gegenwärtig aber
ist die Maximierung von nachhaltigemWohlstand
das Ziel. Es braucht alternative Messgrössen.
Eine Gruppe von Ökonomen aus der Privat­
wirtschaft, von Hochschulen und internationa­
len Einrichtungen hat, aufbauend aufWeltbank­
Ansätzen, dasWealth Project (Wohlstandspro­
jekt) entwickelt.Kurzfristigkönnte das Median­
einkommen proKopf verwendet werden, um die
Alltagswirklichkeit der Menschen besser abzubil­
den.Anspruchsvoller ist das Naturkapital, das u. a.
die Ökosysteme, Fischbestände und Mineralvor­
kommen bewertet.Auch das Humankapital sollte
berücksichtigt werden.
Junge Protestler wie GretaThunberg führen
uns vorAugen, dass einekohlenstofffreieWirt­
schaft und dieForderungen nach gerechteren
Wirtschaftssystemen zentrale Entscheidungs­
kriterien sein müssen. Andernfalls werden sich
derAufstand gegen die «Eliten» sowie diePolari­
sierung von Gesellschaft undPolitik intensivieren.
EinWeg dazu ist die Einführung unabhängiger
Tr acking­Tools wie des ClimateActionTr acker,
der dieFortschritte einzelnerLänder in der Um­
setzung des Klimaabkommens misst.Regierungen
und internationale Organisationenkönnten diese
als Massstab verwenden und auf internationalen
Tagungen die bestenVerfahren besprechen.
Weitersollten die Menschen, die derzeit ihre
Stimme dem Protest leihen, inkonstruktiverer
Weise eingebunden werden, beispielsweise durch
eine breit zugängliche Plattform für jedes nach­
haltige Entwicklungsziel. Am WEF arbeiten wir
zurzeit an diesem Projekt, das mit Schwerpunkt
Ozeane inDavos vorgestellt werden wird.Auf
dieseWeisekönntenalle eine positiveRolle spie­
len undihre Ideen,Fähigkeiten und bereitsge­
tätigten Massnahmen einbringen.


Das soll die Leute nicht daran hindern, dem
eigenenLandVorrang einzuräumen. Gesundheit
undWohlbefinden, Bildung, Geschlechtergleich­
stellung,angemessene Arbeit,Verringerung der
Ungleichheiten sowie starke Institutionen sind
Aufgaben, die jedesLand einzeln in Angriff zu
nehmen hat. Eine Akzentuierung von eigenstaat­
lichem Handeln kann helfen, einen neuenAus­
gleich zwischen globalen Zielen und maximaler
einzelstaatlicher Eigenständigkeit zu schaffen.
Zudem ist es an der Zeit zu erkennen, wie sich
dieRolle der Unternehmen in den letzten fünfzig
Jahren geändert hat. Als MiltonFriedman 1970
für die «shareholder primacy» plädierte, waren
sich die Unternehmen entweder deren breiter
gesellschaftlicherAuswirkungen nicht bewusst,
oder sie waren zu klein, um das wirtschaftliche
und gesellschaftliche Gleichgewicht beeinflus­
sen zukönnen.Aufgrund der weltweiten Liefer­
ketten, der enormen Grösse oder der technologi­
schenVorherrschaft von einzelnen Unternehmen
kann eine solche Sichtweise heute nicht aufrecht­
erhalten werden.
Wir sind in das Zeitalter des «Stakeholder­
Kapitalismus» eingetreten, wie die jüngste Er­
klärung des BusinessRoundtable zumThema
zeigt. Unternehmensmassstäbe müssen sich
ändern, indem ergänzend zu den Bilanzen ein
allgemein anerkanntes Rating für Umwelt,
Soziales und Governance in denJahresbericht
aufgenommenwird.
Ein solchesRating wird derzeit vom Interna­
tional Business Council entwickelt, der vom CEO
derBank of America, Brian Moynihan, geleitet
wird. Es wird von den vier grösstenWirtschafts­
prüfungsunternehmen unterstützt, die zuvor an
ähnlichen Initiativen gearbeitet haben und auf
dieser Erfahrung aufbauenkönnen.Wenn alle zu­
stimmen,könnte dasRating schonbaldWirklich­
keit werden und einen führenden Indikator für die
Leistung eines Unternehmens darstellen.
Die Einführung dieser Indikatoren wäre ein
wichtiger Schritt in der Bewältigung langfristi­
ger globaler Herausforderungen.Darüber hinaus
läge hier ein Mittel zur Entschärfung gegenwärti­
ger und zurVermeidung zukünftigerWirtschafts­
krisen. Die «Eliten»könnten der in vielen ökono­
mischen Belangen unzufriedenenWeltöffentlich­
keit zeigen, dass sich diePersonen an der Spitze
derWirtschaft tatsächlich für denWohlstand aller
und nicht nur für ihren eigenenReichtum einset­
zen. Es ist nötig, dass wirtschaftliche Interessen­
vertreter aus allenTeilen derWelt an diesen Be­
mühungen teilnehmen.Auf dieseWeisekönnen
wir es schaffen, dem Zeitalter desallzu kurzfristi­
gen ökonomischen Denkens ein Ende zu setzen.

Klaus Schwabist Gründer und Executive Chairman des
Weltwirtschaftsforums(WEF).

Europäisches Bewusstsein


Wir brauchen eine Idee


Gastkommentar
von JAN ASSMANN

Der antikeMythos von Europa erzählt von der
Tochter des phönizischenKönigs Agenor, die von
Zeus in Gestalt eines weissen Stiers nach Kreta
entführt wurde. Der wahreKern dieses Mythos
ist das Bewusstsein, dass die europäischeKultur
aus dem Orient stammt.Aus Phönizien stammt
vor allem das griechische Alphabet. Kadmos, der
Bruder der Europa, soll es in Griechenland einge­
führthaben. Der Name Kadmoskommt von semi­
tisch «qedem». In dieserWurzel verbinden sich
dieVorstellungen von «Osten» und «alter Zeit».
DieGriechen blickten aufden Osten von Ägypten
bis Anatolien als ihr Altertum, so wie wir auf Grie­
chenland undRom als unser Altertum blicken,
und jedes Mal geht es um 20 00 bis 30 00 Jahre
zurück in der Zeit. 20 00 bis 30 00 Jahre trennen
uns vom klassischen Altertum, also von Homer
bisTacitus, und 20 00 bis 30 00 Jahre trennen diese
wiederum von den ersten Pharaonen und sume­
rischenKönigen.Für die Griechen bedeutete
Europa die griechischeWelt, von Ionien bis Mar­
seille. In Absetzung vom Orient galt Europa als
dieWelt derFreiheit und des Geistes, gegenPer­
sien, dieWelt der Despotie.
Das nächste Europa entstand in der Spätantike.
Die Christianisierung Europas war das erste –
nicht unbedingtgewaltlose – europäische Projekt
im Zeichen der Einheit und Einigung und ging
von zwei Zentren aus: Byzanz undRom. Byzanz
erschloss den Osten über Kiew und Moskau,Rom
denWesten über ein im äusserstenWesten gelege­
nes Zentrum. Schon im 4. und im 5. Jh. begann
von Irland aus die iroschottische Mission, die das
Europa der Klöster schuf und bis zum7. Jh. auf
demFestland nicht weniger als 300 Klöster grün­
dete. Die Christianisierung bedeutete glücklicher­
weise nicht nur die Zerstörung, sondern auch die
Rettung des antiken Erbes. Die irischen Klöster
fungierten als Skriptorien undkopierten nicht nur
Bibel und Kirchenväter,sondernauchgrosseTeile
der heidnisch­antiken Literatur. Ähnlich wirkten
im Osten die byzantinischen Mönche und noch
weiter östlich die islamischen Gelehrten, die sich
um die griechischeWissenschaft,vor allem Medi­
zin, Astronomie und Philosophie, kümmerten.
So wie die Christianisierung Europa vom 4. bis
zum 12. Jh.geeinigt hat, so hat das «grosse mor­
genländische Schisma» von 1054 Europa in den
orthodoxen Osten und denrömisch­katholischen
Westen gespalten.1439 wurde in Florenz und
Ferrara einKonzil abgehalten, um im Angesicht
der osmanischen Bedrohung die christliche Kir­
che wieder zu vereinigen. Eine griechisch­ortho­
doxe Delegation unter Leitung desPatriarchen
vonKonstantinopel war dazu angereist. Der be­
tagtePatriarch war bei diesemKonzil inFerrara

gestorben, sein Grabstein trägt folgende Inschrift:
«Bischof der Kirche war ich und einWeiser Euro­
pas. Hier liege ich,Joseph, gross an Glauben. Das
eine wünschte ich, von wunderbarer Liebe ent­
flammt,eine Gottesverehrung undeinen Glauben
für Europa.» Im Angesicht der osmanischen Be­
drohungkommt es zu diesem ersten neuzeitlichen
Moment bewussten Europäertums.
Leider wurde nichts aus dieserWiedervereini­
gung, die Spaltung blieb und wirkt bis heute nach.
Die griechische Delegation brachte aber auch
die altgriechische Literatur ins Abendland zu­
rück, und mitRenaissance undReformation ent­
stand ein drittes Europa, das Europa der Gelehr­
ten undKünstler, die humanistische Idee einer
Res publica litteraria, wie sie um 1500 mit dem
Buchdruck aufkam und Dichter und Gelehrte
praktisch aller europäischenLänder miteinander
ins Gespräch brachte, erst in der Lingua franca
desLateinischen, dann zunehmend mit Überset­
zungen in die jeweiligenLandessprachen. Man
schrieb sich Briefe, besuchtesich, kannte sich,
quer durch ganz Europa, und das galt ebenso für
dieKünstler, vor allem die Musiker. Die Erfin­
dung der Notenschrift brachte die Musik auf die
Höhe der grossenKünste.
Jetzt entstand Europa als einResonanzraum
für Musik, Dichtung, Gelehrsamkeit, Kunst und
Wissenschaft über alle nationalen und sprach­
lichen Grenzen hinweg. Gleichzeitig aber kam es
zu einem gewaltsamenAusgriff Europas auf den
Rest derWelt. Seit MarcoPolo,Vasco da Gama
und Christoph Columbus benutzt Europa seine
Küsten, Häfen, Flotten, um denRest derWelt zu
erforschen und zukolonialisieren.Das Europa
der Kriege und derkolonialistischen Expansion
haben wir überwunden. Am geistigen Europa,
dem Europa derKünstlerund Gelehrten, aber
gilt es festzuhalten.Das europäische Bewusst­
sein droht verloren zu gehen.Wir brauchenkeine
«Vereinigten Staaten von Europa» nach ameri­
kanischemVorbild. Die Nationalstaatenkönnen
ruhig bleiben, was sie sind,sie haben sich bewährt
als optimale Betriebsgrösse für Demokratien, in
denenregelmässigWahlen durchgeführt werden
müssen, und als Hüter und Pfleger der kulturel­
lenVielfalt, die das Besondere der europäischen
Staatengemeinschaft ausmacht.Was wir brauchen,
isteine Idee, ein Zielvon starker Bindekraft,ein
europäischesWir, ein Bewusstseinvon Zusam­
mengehörigkeit,Vertrauen, Solidarität und Hilfe­
leistung, wie es sich auf Erinnerung gründet an
das, was wir durchgemacht und was wir erreicht
haben und nicht wieder aufgeben dürfen.

Jan Assmannistem.Professor fürReligions-und Kul-
turwissenschaftenander Ruprecht-Karls-Universität Hei-
delberg.Der Beitrag ist seinReferat amNZZ-Podium
Brüsselvom1. 10. zumThema «Dereuropäische Traum».
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