Freitag, 18. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE
Grossbritanni en und die EU einigen sich beim Brex it
Ein Durc hbruch – aber die grösste Hürde kommt erst
Nun also doch noch. Nach einem nervenaufreiben-
den Schlussspurt hat man sich in Brüssel auf einen
Brexit-Vertragsentwurf einigenkönnen. Ein geord-
neterAustritt Grossbritanniens aus der EU soll da-
mit möglich werden.Das erreichte Abkommen er-
hielt am EU-Gipfel zunächst die Zustimmungder
restlichen 27 Mitgliedstaaten.ImAnschluss daran
ist dieReihe jetzt am britischen Unterhaus. Es soll
am Samstag zu seiner Sondersitzung zusammen-
treten, um über das Übereinkommen zu beraten
und abzustimmen.
Ist damit die Quadratur des Brexit-Zirkels end-
lich erreicht? Ist gelungen, was zuvor jahrelang
vergeblich angestrebt worden war und was Boris
JohnsonsVorgängerin das Amt gekostet hatte? In
den letztenTagen war jedenfalls auf beiden Sei-
ten der starkeDrang spürbar,«es» endlich hinter
sich zu bringen.AltgewohnteGewissheiten began-
nen sich unter derWirkung des immer stärkeren
Zeitdrucks zu verflüchtigen. Höhepunkt war dabei
das ZugeständnisJohnsons, Nordirland de facto in
der EU-Zollunion zu belassen, umden verhass-
ten «Backstop» loszuwerden–die bisher vonder
EU verlangteRückversicherung für eine offene
innerirische Grenze. Die Errichtung einer solchen
Tr ennlinie zwischen Nordirland und dem übrigen
Grossbritannien hatte einstTheresa May nochals
absolut indiskutabel zurückgewiesen und katego-
risch erklärt,kein britischerRegierungschefkönne
solches jemals akzeptieren. Nun ist genau dies ge-
schehen. DerTeufel dürfte aber auch hier im Detail
liegen – und alle Einzelheiten sind noch nicht fest-
gelegt. Dies betrifft besonders diekonkreteAusge-
staltung des zukünftigen Grenz- und Zollregimes
auf der irischen Insel, das in seinerKomplexität
weltweit seinesgleichen suchen dürfte.
Die grosse Frage ist nun,ob unter diesen
Umständen eine Mehrheit derParlamentarier in
Westminster demVerhandlungsergebnis zustim-
men wird.Vor knapp einemJahr hatte May be-
reits einmal einenVertrag mit Brüssel ausgehan-
delt, doch dieser fiel anschliessend dreimal imPar-
lament durch.Damit er nicht das gleiche Schicksal
erleidet, ist Premierminister BorisJohnson als Chef
einer Minderheitsregierung erstens auf die Stim-
men der «Spartaner» unter denTories – das heisst
der Anhänger eineskompromisslosen Brexits – an-
gewiesen.Für eine sichere Mehrheit würde er zwei-
tensdie Stimmen der nordirischen Unionisten der
DUP und drittens diejenigen von rund zweiDut-
zendLabour-Abgeordneten benötigen. Die Hard-
liner in der eigenenFraktion haben zuerkennen ge-
geben, dass sie einenrealen Deal einem unerreich-
baren idealen Deal vorziehen.Dagegen lehnt die
DUP dasVerhandlungsresultat ab. Johnson wird
am Samstag also wohl ohne ihre Stimmen auskom-
men müssen. Hoffen kann er dagegen aufLabour-
Abgeordnete ausWahlkreisen mit einer Brexit-
Mehrheit. Siekönnten versucht sein, die Gelegen-
heit für einen EU-Austritt in geordnetenBahnen
nicht vorbeigehen zu lassen. Doch am Endekönn-
ten ganz wenige Abgeordnete im Unterhaus den
Ausschlag geben und eine historische Entscheidung
herbeiführen odersieverhindern.
Erreicht wurde in Brüssel ein wichtiges Etap-
penziel. Es eröffnet die Chance, dass sich endlich
klärt, ob einAusweg aus dem Brexit-Labyrinth
möglich wird – oder ob ein Scheitern derVerein-
barung im Unterhaus eine Kaskade auslöst, die in
einer erneutenVerschiebung des Brexits, einer bal-
di genParlamentswahloder einem neuenReferen-
dum endenkönnte.Die Einigung zwischen Lon-
don und Brüssel bedeutet deshalb noch nicht das
Ende des Brexit-Dramas, dessenVorrat an Über-
raschungen kaum schon erschöpft ist.Aber zumin-
dest seinen Anfang haben die beidenKonflikt-
parteien jetzt schon einmal hinter sich gelassen.
Am Ende könnten
im Unterhaus ganz wenige
Abgeordnete eine historische
Entscheidung herbeiführen
oder sie verhindern.
Deutscher Angriff auf Schweizer AKW
Berlin schert sich nicht um Schweizer Recht
Das ist dickePost aus dem Nachbarland:Das deut-
sche Umweltministerium fordert eineschnellst-
mögliche Abschaltung des AKW Beznau. Zu-
dem sollen die verbleibenden dreiWerke «zeit-
nah» ihren Betrieb einstellen.Das Schreiben ging
an Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Öffent-
lichkeit wurde per Medienmitteilung unterrichtet.
Der Brief kommt aus derFeder von Rita
Schwarzelühr-Sutter. Sie gehört als parlamentari-
sche Staatssekretärin zur Leitung des deutschen
Bundesumweltministeriums. Die SPD-Politikerin
aus Süddeutschland ist in der Schweizkeine Un-
bekannte. Sie hat schon mehrmals die Schweiz kri-
tisiert, sei es wegen des Fluglärms, der Endlager
oder eben der Atomkraftwerke.Bereits 2015, da-
malsnoch einfache Abgeordnete für denWahlkreis
Waldshut, forderte Schwarzelühr-Sutter die Ab-
schaltung von Beznau aus Sicherheitsgründen. Im
Unterschied zu einst handelt diePolitikerin heute
in offizieller Mission:alsranghohe Mitarbeiterin
des Umweltministeriums. Es ist davon auszugehen,
dass sie die Linie mit ihrer Chefin, der Umwelt-
ministerinSvenja Schulze, abgesprochen hat.
In Bern geht man davon aus, dass das Schrei-
ben an Sommaruga eineReaktion auf einen NZZ-
Artikel von Anfang Oktober ist.Darin waren neue
Szenarien des Bundes beschrieben, wonach die
AKW neu auch 60Jahre betrieben werdenkön-
nen, also zehnJahre länger als bisher angenommen.
Dabei handelt es sich jedoch um ein Szenario und
nicht einen Plan, wie eineVertreterin des Bundes
im Artikel betonte.Weil Beznau bereits im 51.Be-
triebsjahr steht,hat dieRealität die bisher unter-
legten 50Jahre überholt.
Nun gibt es durchaus ein gewissesVerständnis
dafür, dass Berlin die Sicherheit der süddeutschen
Bevölkerung am Herzen liegt. Ob allerdings das
AKW Beznau vielen Süddeutschen Sorge bereitet,
wie es aus dem Umweltministerium heisst, ist zu-
mindest anzuzweifeln. Solche Argumentekönnen
auch vorgeschoben werden, um die eigene politi-
sche Agenda voranzubringen. Es erinnert an den
Fluglärm und die flankierenden Massnahmen. Bei
diesenKonflikten machte Berlin (beziehungsweise
Brüssel) Druck auf die Schweiz mitVerweis auf die
geplagteBevölkerung oder diskriminierte Betriebe
in Süddeutschland.
In der Schweizkontrolliert dieAufsichtsbehörde
Ensi die Sicherheit der Atomkraftwerke. Die
Werkekönnen so lange betrieben werden, wiesie
nach den geltendenRegeln als sicher gelten. Die
Intervention des deutschen Umweltministeriums
zeigt letztlich, dass es der Schweizer Behörde nicht
vertraut. Offensichtlich schätzt es die Sicherheit
der Schweizer AKW geringer ein als das Ensi. Die
Sicherheit eines AKW ist einekomplizierte Sache,
und man kann zu unterschiedlichen Schlüssenkom-
men. Doch sollten diese gut begründet sein, was
hier nicht derFall ist.
Berlin schert sich auch nicht um die Schweizer
Demokratie. Die Stimmbevölkerung hat 20 16 die
Atomausstiegsinitiative,die fixeLaufzeiten für die
Kernkraftwerkevorsah, abgelehnt. Sie hat also ein
in Stein gemeisseltes Abschaltdatum ausdrücklich
verworfen.
JedesLand entscheidet selbst, wie es seinen
Strom erzeugt. Dies gilt für die Schweiz wie auch
für Deutschland.AusSchweizerSicht wärees ver-
lockend, die sofortigeAbschaltung desKohlekraft-
werks Niederaussem in Nordrhein-Westfalen zu
fordern. Es verursacht einen jährlichen CO 2 -Aus-
stoss von rund 27 MillionenTonnen. Dies ist halb
so viel wie die gesamte Schweiz in einemJahr an
Tr eibhausgasemissionen ausstösst.
Aus Schweizer Sicht
wäre es verlockend,
die sofortige Abschaltung
des Kohlekraftwerks
Niederaussem in Nordrhein-
Westfalen zu fordern.
Russlands IT-Branche unter Druck
Die Schlinge des Kremls zieht sich langsam zu
Ein Gesetzentwurf bringt die russische Internetbran-
che inAufruhr. DerVorschlag sieht vor, dassAuslän-
der künftig nur noch 20 Prozent der Anteile an wich-
tigen russischen IT-Firmen halten dürfen. Noch ist
nicht klar, ob sich hinter der Idee derWunsch des
Kremls versteckt,Russlands Internetsektor an der
noch kürzeren Leine halten zukönnen. Oder ob
das Gesetz bloss aus derFeder eines Abgeordneten
der Putin-Partei EinigesRussland stammt, der sich
schlecht in Internetthemen auskennt.Darauf hofft
die Branche, denn dann bestehen gute Chancen, sich
gegen dasVorhaben zu wehren.Schliesslich müss-
ten doch Putins Berater verstehen, welchen Scha-
den diesesGesetzanrichten würde. Die Anleger hin-
gegen ziehen bereits dieKonsequenzen. Der russi-
sche InternetgigantYandex mussKursverluste von
bis zu 20 Prozent hinnehmen.
Wer auch immer hinter der Beschränkung steht,
er übersieht, wasRusslands Internetunternehmen
einst starkgemacht hat.Tatsächlichkonnten sie sich
erfolgreich gegenKonkurrenz aus demWesten be-
haupten.Yandex ist Google bei Suchanfragen auf
Russisch ebenbürtig undkonnte mit seinemTaxi-
service zumindest inRussland Uber in die Knie
zwingen.Das soziale Netzwerk VKontakte istFace-
book meilenweit voraus, und jungeRussen unter-
halten sich lieber überTelegram, als beiWhatsapp
zu schreiben. Gewachsen sind diese erfolgreichen
Unternehmen in den nullerJahren, als der Kreml
die Internetbranche wenig beachtete. Diese zog
internationaleInvestoren an und zeigte sich expe-
rimentierfreudig sowie offen. 2 01 1 schaffte esYan-
dex als erstes russisches Unternehmen an dieTech-
nologiebörse Nasdaq und hegteeinstgrosse Expan-
sionspläneimAusland.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Zwar sind
nicht alle ausländischen Investoren verschwun-
den. Doch in den vergangenenJahren hatRuss-
land eineReihe von Gesetzen erlassen, welche
dieFreiheit im Netz einschränken. Spätestens seit
der Staat fast uneingeschränkt auf Nutzerdaten
zugreifen will und Hacker undTr olle losschickt,
um sich etwa in ausländischeWahlkämpfe ein-
zumischen, beäugen viele das russische Internet-
geschäft mitVorsicht. Nicht ohne Grund verlegen
zahlreiche russische Startups ihr Hauptquartier ins
Ausland, allen voran in die USA: ausgerechnet in
jenesLand, vor dessen Einfluss sich der Kreml an-
geblich mit Gesetzen undVerboten schützen will.
Sollte das neue Gesetz tatsächlichkommen und
ausländische Investoren weiter behindern, werden
russische Unternehmen über kurz oder lang ihre
Konkurrenzfähigkeit verlieren: Nicht nur, weil dann
Kapital fehlt, um neue Produkte zu entwickeln, son-
dern auch, weil solche Gesetze bei Investoren das
Gefühlevozieren,eine Schlinge umden Hals zu
haben, die sich langsam zuzieht.Das istkeine gute
Atmosphäre für einen blühenden IT-Zweig.
Noch ist etwaYandex imstande, auch auf dem
heimischen Markt mit neuen Diensten wieTaxi-
fahrten, Carsharing und Essenslieferung den Um-
satz kräftig zu steigern. Allerdings haben bereits
viele Gründer der ersten StundeRussland verlas-
sen, oder sie investieren ihr Geld lieber imAusland
als in russische IT-Konzernen. Computerspezia-
listen gehören zu den mobilsten Menschen über-
haupt. Irgendwann werden die russischen Unter-
nehmen nicht nur Investoren und klugeKöpfe, son-
dern auchKunden verlieren, und zwar an jene aus-
ländischenKonkurrenten, die der Kreml so sehr
fürchtet. Und vor deren Einfluss man die eigenen
Bürger und Unternehmen vermeintlich schützen
will. Es sei denn, dass irgendwann auch dieseKon-
kurrenz per Gesetz vom Markt gedrängt wird.
Behindert Moskau
ausländische Investoren,
werden russische
Unternehmen
über kurz oder lang
ihre Konkurrenzfähigkeit
verlieren.
MAXIM KIREEV