Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 18. Oktober 2019


Die Kuppel derSynagogein Halle, wo am 9 .Oktober einBewaffneter versucht hat, ein Massaker unter den Gläubigen zu verüben. SOEREN STACHE / DPA


Der Antisemitismus


war nie verschwunden


Nach dem Anschlag von Halle äussern sich deutsche Politiker, als wäre der Anti semitismus


erst vor kurzem i n ihr Land zurückgekehrt. Dass der Täter durch den Aufs tieg der AfD


motiviert war, ist unwahrscheinlich. Den Vorwurf, sie bereite den Boden für antisemitische


Gewalt, muss sich die Partei dennoch gefallen lassen.Von Hansjörg Müller, Berlin


Die deutschePolitik gab sich überrascht undbe-
stürzt. Doch dieWorte, mit denen sie dies tat, wirk-
ten merkwürdigroutiniert,wenn nicht phrasenhaft –
so al s glaubten diejenigen, die sie aussprachen, selbst
nicht so ganz, was sie da sagten.Von einem «Alarm-
zeichen»redete Annegret Kramp-Karrenbauer, die
Parteichefin der Christlichdemokraten, nachdem
ein Attentäter letzteWoche anJom Kippur, dem
höchsten jüdischenFeiertag, in der ostdeutschen
Stadt Halle zunächst mitWaffengewalt in diedor-
tige Synagoge einzudringen versucht und kurz dar-
auf zweiPassanten getötet hatte.Als «u nvorstellbar»
bezeichnete BundespräsidentFrank-Walter Stein-
meier dieTat.
Nur fünfTage vor demAnschlag,der Steinmeiers
Vorstellungsvermögen überstieg, war in Berlin ein
Mann mit gezücktem Messer über den Sicherheits-
zaun derSynagoge in der Oranienburger Strasse
geklettert.Anders als in Halle stehen jüdische Got-
teshäuser und Einrichtungen in Berlinunter stän-
diger Bewachung durch diePolizei; der Eindring-
ling wurde überwältigt, bevor er irgendjemandem
Schaden zufügenkonnte.Während der Attentäter
von Halle ein 27-jähriger Deutscher ohne Migra-
tionshintergrund war, der nach eigenen Angaben
«so vieleAntiweisse wie möglich» töten wollte, dar-
unter vorzugsweiseJuden, handelte es sich in Ber-
lin offenbar um einenSyrer, der lautAugenzeugen
«Allahu Akbar» und «Fuck Israel» gerufen hatte.


Keine Normalität


Dass SynagogenPolizeischutz benötigen, ist eine
Tatsache, mit der sichPolitik und Gesellschaft in
Deutschland seitlangem abgefundenhaben. Nor-
malität gibt es fürJuden hier noch weniger als sonst
irgendwo in Europa, das ist die bittereWahrheit.
Schon jüdische Kinder sind es gewohnt, den Kin-
dergarten oder die Primarschule durch eine Sicher-


heitsschleuse betreten zu müssen.Allein deswegen
hätte weder der Anschlag von Halle nochder An-
schlagsversuch von Berlin irgendjemanden über-
raschen dürfen. Unter den Phrasen vom «Angriff
auf uns alle», die dem Attentat von Halle folg-
ten, schienen zumindest einigePolitiker auch ihre
eigene Mitverantwortung begraben zu wollen: Die
Bitten der dortigen Gemeinde um mehrPolizeiprä-
senz waren in derVergangenheit ignoriert worden.
Auch was die historische Einordnung des Ge-
schehens betraf, scheiterten deutschePolitiker
daran, die richtigenWorte zu finden:Wer ihnen zu-
hörte, konnte meinen, Antisemitismus sei ein Phä-
nomen, das mit dem Ende des ZweitenWeltkriegs
schlagartig aus Deutschland verschwunden und erst
vor kurzem wieder dorthin zurückgekehrt sei. Es
gab ihn aber immer, im Grossen wie im Kleinen.
Die DDR betrieb eine stramm antizionistischePoli-
tik und wies gleichzeitig jede historischeVerantwor-
tung für das, was vor 1945 geschehen war, mit dem
Hinweis auf ihren «antifaschistischen» Charakter
von sich.In der Bundesrepublik kam derJuden-
hass zunächst vonrechts und später auch von links.
«Deutsche fordern:Juden raus», schmierten zwei
Mitglieder derrechtsextremen DeutschenReichs-
partei an Heiligabend1959 auf dieWand derKölner
Synagoge, die erst drei Monate zuvor wieder eröff-
net worden war. IhreTat fand in ganzWestdeutsch-
land Nachahmer.

Politisch instrumentalisiert


ZehnJahre später, am 9. November1969,deponier-
ten linksextreme Stadtguerilleros eine Bombe in
einem jüdischen Gemeindezentrum inWestberlin,
in dem eine Gedenkveranstaltung zumJahrestag
der Reichspogromnacht stattfand. Ein defekter
Zeitzünder verhinderte, dass die Pläne derTerro-
risten aufgingen.Palästina sei für Deutschland und

Europa das, was Vietnam für Amerika sei, schrieb
DieterKunzelmann, derKopf der Gruppierung,
wenigeWochen später in einemPamphlet. Die
deutschenLinken hätten das noch nicht begriffen,
denn sie litten noch immer an einem «Judenknax».
Mittlerweile gibt es auch in Deutschland eine
dritte Spielart desJudenhasses: Er geht von Mus-
limen aus.Wer sich in der jüdischen Gemeinde
Berlins umhört, erfährt, die Beziehungen zwischen
Juden und Muslimen in der Stadt seien noch nie so
schlecht gewesen wie heute. Dafür seien allerdings
weniger die arabischen Flüchtlinge verantwort-
lich, die seit 2015 nach Deutschland gekommen
seien, als vielmehr Muslime, derenFamilien schon
seit Jahrzehnten imLand lebten.Auch unterTür-
ken und türkischstämmigen Deutschen wachse der
Antisemitismus. Dies sei vor allem auf die scharfe
antiisraelische Rhetorik des türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdogan zurückzuführen.
Im Kampf um politischen Geländegewinn wer-
den rechtsextremer und islamistischer Antisemi-
tismus zunehmend gegeneinander in Stellung ge-
bracht. So wirdder Judenhass von mehreren Sei-
ten politisch instrumentalisiert. Dabei handelt, wer
nur vonrechtem Antisemitismusredet, genauso
verlogen wie all jene, die den Eindruck erwecken,
nur linker oder muslimischerJudenhass seienein
Problem.Die Opfer schätzendie Lage meistrealis-
tischer ein: «Dass ein Nazi eine solcheTat begeht,
hat mich nicht überrascht,es hätte aber genauso gut
auch ein Linksradikaler oder ein Islamist seinkön-
nen», erklärte Max Privorozki, der Vorsitzende der
JüdischenGemeindein Halle, am Tag nach derTat.
Entscheidend sei für ihn, dass derartigeTaten von
den Sicherheitskräften nicht verhindert würden.

Die «Grenzen des Sagbaren»


Dass so viele deutschePolitiker undKommenta-
toren heute eine«Wiederkehr» des Antisemitis-
mus sehen wollen, hat mit demAufstieg der Al-
ternative für Deutschland (AfD) zu tun. Ihr wird
nun eine Mitschuld an dem Attentat von Halle zu-
geschrieben. DenVorwurf ihrer Gegner, sie habe
die «Grenzen des Sagbaren» verschoben und be-
reite dadurch den Boden für antisemitische Gewalt,
muss sich diePartei gefallen lassen.Aus Worten
könnenTaten werden. In derVergangenheit haben
Repräsentanten der AfD einen angeblichen deut-
schen «Schuldkult» beklagt und Stolz auf dieLeis-
tungen deutscher Soldaten im ZweitenWeltkrieg
bekundet.Hinter all dem steht dieForderung nach
einem Schlussstrich unter dieVerbrechen der Nazi-
zeit. DerartigeReden gibt es in dieser oder ähn-
licherForm zwar seit über siebzigJahren,doch dass
füh rende Vertreter einer Bundestagspartei so da-
herreden, gibt ihnen eine neue Qualität.
Dass derTäter von Halle durch die zunehmende
Präsenz derAfD inParlamenten und Medien moti-
viert war, ist dennoch unwahrscheinlich:Er war ein
Einzelgänger,der beruflich wie privat als geschei-
terte Existenz zu enden drohte. SeinWeltbild bezog
er offenbar aus den dunkelsten Ecken des Inter-
nets.Was die Gesellschaft für «sagbar» hält und was
nicht, dürfte für ihn kaum ausschlaggebend gewe-
sen sein, sofern es ihm überhaupt bewusst war.
Unter AfD-Anhängern führen dieVorwürfe,
denen sich ihrePartei nun ausgesetzt sieht, bereits
zur Entstehung vonVerschwörungstheorien:Warum
der Anschlag gerade jetzt komme, nur wenige
Wochen vor denLandtagswahlen inThüringen, wird
dort gefragtund über eine mögliche Mitverantwor-
tung deutscher Geheimdienste oder ein linkesKom-
plott spekuliert.Dass es keinerleiAnhaltspunkte für
derartige Theorien gibt, dürfte diejenigen, die daran
glauben wollen, kaum davon abbringen.
Die AfD stellt sich selbstgernals letztes Boll-
werk gegen muslimischen Judenhass dar. Dies
wirkt vor dem Hintergrund dessen, was sich ein-
zelneRepräsentanten derPartei auch nach dem
An schlag von Halle wieder leisteten, besonders
zynisch und perfide.WarumPolitiker «mitKer-
zen in Moscheen undSynagogen herumlunger-
ten», wo es sich bei den beiden Opfern doch um
«eine Deutsche, die gernVolksmusik hörte», und
einen «Bio-Deutschen»gehandelt habe,hiess es
in einerWortmeldung aufTwitter , die vom AfD-
Bundestagsabgeordneten StephanBrandner wei-
terverbreitet wurde. Suggeriert wurde damit nicht
nur, Juden könntenkeine Deutschen sein, sondern
auch, dieWeltanschauung und die selbsterklärte
Absicht des Mörders hätten bei dessenTat über-
hauptkeine Rolle gespielt.
Die deutschePolitik steht nun vor derFrage,
welcheKonsequenzen sie aus der Bluttat von
Halle zieht.Der Ruf nach mehr Mitteln für poli-
tische Bildung, Jugendhäuser,Antisemitismusbe-
auftragte und Initiativen gegenRassismus wird
ertönen.Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwen-
den,doch was es vor allem braucht,ist einrobuste-
resVorgehen desRechtsstaats. Dies betrifft längst
nicht nur denAusbau derPolizeipräsenz, der von
der Jüdischen Gemeinde in Halle zuRecht ge-
fordert wird. Der Mann, der den Sicherheitszaun
der BerlinerSynagoge überwand, wurde bereits
wenige Stunden nach seinem Anschlagsversuch
wied er freigelassen. Er habe ja niemanden be-
droht, erklärte die Staatsanwaltschaft. Ein solcher
Entscheid ist nicht nur schwer zu verstehen, son-
dernauch schwer erträglich.

Wer nur von rechtem


Antisemitismus redet,


handelt genauso verlogen


wie jene, die den Eindruck


erwecken, nur linker oder


muslimischer Judenhass


seien ein Problem.

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