14 SCHWEIZ Freitag, 18. Oktober 2019
Gefängnissesind schlecht auf dasSterben hinter Gittern vorbereitet. Im Bilddie JustizvollzugsanstaltPöschwies. GORAN BASIC / NZZ
Wenn kranke Verbrecher sterben wollen
Die Kantone tun sich mit Sterbehilfe im Strafvollzug schwer – ein neues Gutachten sol l Klärun g brin gen
DANIEL GERNY
«Das Leben hatkeinen Sinn mehr», er-
klärte P. V. , ein 69-jähriger,verwahr-
ter Sexualstraftäter im letzten Herbst
öffentlich und meldete sich bei Exit
an. Der Mann ist krank, gilt aber wei-
terhin als gefährlich. Deshalb muss er
hinter Gittern bleiben, obwohl er seine
Strafe abgesessen hat. Seine Chancen
auf Sterbehilfe sind derzeit allerdings
klein. Die Strafvollzugsbehörden haben
bis jetztkeine ErfahrungmitSterbehilfe,
und gesetzlicheRegeln existieren nicht.
Der verwahrte Serientäter, der in der
Justizvollzugsanstalt Bostadel im Kan-
ton Zug einsitzt, ist bis jetzt der einzige
bekannteFall eines Gefängnisinsassen,
der mithilfe einer Sterbehilfeorganisa-
tion aus dem Leben scheiden will. Doch
es ist absehbar, dass solcheFälle zuneh-
men werden.
Mehr alteGefangene
In den SchweizerJustizvollzugsanstal-
ten leben immer mehr ältere Gefangene.
Einerseits wirddie Bevölkerung älter –
und damit auch Menschen, die im fort-
geschrittenenAlter Straftaten begehen.
So steigt die Zahl der über 70-Jährigen,
die in denVollzug eingewiesen werden,
seit einiger Zeit an. Gleichzeitig zeich-
net sich bei gewissen Delikten seitJah-
ren einTr end zu längeren Strafen und
einer härterenVerwahrungspraxis ab. So
hat sich die Zahl der Gefangenen von
über 70Jahren zwischen1984 und 2004
verachtfacht. Die Strafvollzugsanstalten
erwarten deshalb, dass sich der derzeit
moderate Zuwachs von altersbedingten
Todesfällen hinter Gefängnismauern in
denkommendenJahren beschleunigt.
Auf sterbende Gefangene sei derJus-
tizvollzug jedoch schlecht vorbereitet,
lautete dasFazit einer Studie imRah-
men des Nationalen Forschungspro-
gramms zum Lebensende bereits vor
zweiJahren.Für dieFrage der Sterbe-
hilfe gilt das ganz besonders. Die Straf-
vollzugsanstalten und die dafür zustän-
digen Kantone befassen sich erst seit ei-
niger Zeit mit diesemThema. Es stellen
sich in diesem Bereich besondereheikle
Fragen – etwa ob der Zweck von Strafen
unterlaufen wird, wenn sich Gefangene
ihnen durch Suizid entziehenkönnen,
solange sie ihre Strafe noch nicht ver-
büsst haben. EinRechtsgutachten der
Universität Zürich sieht für dieseThese
durchaus Gründe, «da durch den Sui-
zid das öffentliche Interesse an einem
gerechten Schuldausgleich nicht mehr
oder nicht mehr vollständigrealisiert
werden kann».
Das vergangene Woche publi-
zierte Gutachten wurde imAuftrag des
Schweizerischen Kompetenzzentrums
für denJustizvollzug (SKJV) erstellt,
das die Kantone bei der strategischen
Planung und Entwicklung desJustiz-
vollzugs in der Schweiz unterstützt. Die
Autorinnendes Berichts,die Strafrechts-
professorin Brigitte Tag und IsabelBaur,
gewichten das Selbstbestimmungsrecht
des Gefangenen allerdings dann höher,
wenn dieser an einer schweren Krank-
heit mit einemraschen tödlichenVerlauf
leidet undkeine vorzeitigeHaftentlas-
sung in Betrachtkommt.In solchenFäl-
lenkönnten Überlegungen zum Sühne-
gedanken nichtvon ausschlaggeben-
der Bedeutung für die Zulässigkeit der
Sterbehilfe sein.Das Gutachtenmacht
aber klar, dass Sterbehilfe nur das letzte
Mittel sein dürfe. Bei Schwerstkranken
müssten ein Haftunterbruch oder al-
ternativeVollzugsformen geprüft wer-
den.Ausserdem sollten die Möglichkei-
ten zurPalliative Care imVollzug aus-
gebaut werden.
Ganz abgesehen werden soll von
Suizidbegleitungen aufgrund von schwe-
ren psychischen Erkrankungen. Das
Bundesgericht hat in einem Leiturteil
imJahr 2006 festgehalten, dass grund-
sätzlich auch psychisch Kranke Sterbe-
hilfeerhalten dürfen, sofern der Sterbe-
wunsch auf einem autonomen Entscheid
beruht. Im Strafvollzugraten dieAuto-
rinnen des SKJV-Gutachtens davon
aber ab: Der Staat habe gegenüber sei-
nen Gefangenen eineFürsorgepflicht,
so begründen sie ihre Haltung.Ausser-
dem seien psychische Erkrankungenim
Strafvollzug schwierig abzuschätzen und
«von denRahmenbedingungen der Haft
schwierig zu trennen».
Belastung fürAngestellte
Das Beispiel zeigt, vor welcher Grat-
wanderung dieJustizvollzugsbehörden
stehen.So hat derVerwahrteP. V.sei-
nenWunsch nach Sterbehilfe auch mit
einer nicht therapierbarenPersönlich-
keitsstörung begründet, bei der jegliche
Besserung ausgeschlossen sei.Tatsäch-
lich zeichnet sich in dieserFrage eine
Kontroverse ab: Eine Arbeitsgruppe des
SKJVkommt in einem eigenen Grund-
lagenpapier im Unterschied zumGut-
achten der Universität Zürich zu dem
Schluss, dass Sterbehilfe in Gefangen-
schaft auch bei schweren und chroni-
schen psychischen Erkrankungen mög-
lich sein müsse. Für den Straf- und
Massnahmenvollzug müssten dieselben
Massstäbe gelten wie beiPersonen in
Freiheit, argumentiert die Arbeits-
gruppe: Einschränkungen seien deshalb
nurzulässig,wenn es derFreiheitsent-
zug und das Zusammenleben im Ge-
fängniserforderten.
Ziel der Abklärungen ist es, eine ein-
heitliche Haltung der Kantone zu ent-
wickeln. DerVorstand derKonferenz
der kantonalenJustiz- undPolizeidirek-
toren (KKJPD) hat die beidenPapiere
im Oktober behandelt und schickt sie
nun bei denJustizvollzugskonkordaten
in dieVernehmlassung. Es geht dabei
nicht nur um grundsätzliche Überlegun-
gen, sondern auch um zahlreiche prak-
tischeFragen. So existieren in schwei-
zerischen Gefängnissen bis heutekeine
speziellenRäumlichkeiten, in denen
einwürdiges Sterben – mit oder ohne
Sterbehilfe – überhaupt möglich ist.
Dass im Strafvollzug Zeit undRaum
fehlt, um Abschied zu nehmen, beschäf-
tigt indessen nicht nur betroffene Ge-
fangene,Mitgefangene sowie das per-
sönliche Umfeld ausserhalb desVoll-
zugs.Auch für die Angestellten der Ge-
fängnisse stellt der Umgang mit demTo d
hinter Gittern alsFolge der zunehmen-
den Alterung eine Belastung dar.Was ein
Vollzugsangestellter vor zweiJahren für
denTod hinter Gefängnismauern allge-
mein formulierte, gilt auch in Bezug auf
die Sterbehilfe: «Im Moment habe ich das
Gefühl, dass dieJustiz einfach verhindern
will, dass jemand imVollzug stirbt.»
APROPOS
Öffnun g auf
chinesische Art
Hansueli Schöchli· Gute Nachricht für
die Schweiz: Chinas Aussenminister
WangYikommt in diesen spannen-
den Zeiten für einenArbeitsbesuch
nach Bern.Vorgesehen ist für nächsten
Dienstag ein Gespräch mit Bundespräsi-
dent Ueli Maurer, darauf folgt einTr ef-
fen mit Bundesrat Ignazio Cassis. Ge-
sprächsthemen sind das bilateraleVer-
hältnis, aktuelle multilateraleThemen,
Menschenrechte und die chinesische
Investitionsinitiative unter demTitel
«neue Seidenstrasse».
Bemerkenswert ist auch dieTr anspa-
renzoffensive des chinesischen Minis-
ters gegenüber der Öffentlichkeit, tat-
kräftig unterstützt durch die Schweiz. So
ist nicht nureinFototermin vorgesehen,
sondern nach den offiziellen Gesprä-
chenauch noch ein Pressegespräch,an
dem die MedienFragen stellen dürfen.
DievomBund verschickte Einladung zu
dieserVeranstaltung enthält garkeine
Liste vonFragen, die man nicht stellen
darf. Dies ist vielversprechend, mangelt
es doch nicht an pikantenThemen – zum
Beispiel den Handelskonflikt China -
USA, Hongkong, Huawei und ein gegen
China gerichteterVorstoss im Schweizer
Parlament für eine staatlicheKontrolle
ausländischer Investitionen.
Nur professionelle Nörgler werden
kritisieren, dass gemäss der Einladung
«proLand nur ein bis zweiFragen ge-
stellt werdenkönnen» – also total ein
bis zweiFragen für SchweizerJourna-
listen und nochmals so vieleFragen für
die chinesischen Berufskollegen. Statt
Kritik für dieseRahmenbedingungen
ist Lob angebracht, denn damitkönnen
auchJournalisten endlich lernen, Prio-
ritäten zu setzen. Zudem gibt es einen
zwingenden Grund für die Begrenzung
bei denFragen. Der chinesischeAus-
senminister habe angesichts seines Pro-
gramms nur wenig Zeit, erklärte das
SchweizerAussendepartement treuher-
zig.Jedervernünftige Mensch muss da
Verständnis haben.
Es wird für die SchweizerJournalis-
ten noch besser: Sie dürfen sogar aus-
wählen, in welcher Sprache sie fragen.
DieAuswahl ist breit – Chinesisch oder
Italienisch. Mindestens eine dieser bei-
den Sprachen kann jeder. Und offen ge-
sagt:Wer nicht beide angebotenen Spra-
chen spricht, ist ohnehinein hoffnungs-
loser Provinzler und hat in Bundes-
bernnichts zu suchen. Bundesrat Cassis
spricht auch hervorragendFranzösisch
und Deutsch, doch dasser inseiner Mut-
tersprachereden will, kann ihmkein
aufrechter Eidgenosse verargen.Aus
staatspolitischer Sicht ist der sprach-
licheRahmen zu begrüssen: Es kann der
nationalenKohäsion in der Schweiz nur
dienlich sein, wenn dieTessiner endlich
einmal einen gewichtigenVorteil haben.
BUNDESGERICHT
Ladendiebstahl ist kein Grund für einen Landesverweis
Ein Ausländer wird in einem Warenhaus ertappt und wird verurteilt – unter die Ausschaf fungsinitiative fällt di e Tat laut Bundesgericht aber nicht
KATHRIN ALDER
Auch neunJahre nach ihrer Annahme
bietet dieAusschaffungsinitiative der
SVP laufend Anlass zu Diskussionen.
Zwar entwickelt sich allmählich eine
höchstrichterliche Praxis zum obligato-
rischenLandesverweis, doch treibt die
Gerichte nach wie vor jeneFrage um, mit
der bereits dasParlament während der
Umsetzung der Initiative am meisten zu
kämpfen hatte:Wie können die Bestim-
mungen der Initiative in der Praxis ver-
hältnismässig angewendet werden?
In einem am Mittwoch publizierten
Entscheid des Bundesgerichts lautete
diekonkreteFrage: Ist es verhältnismäs-
sig, einenAusländer wegenLadendieb-
stahls desLandes zu verweisen? Nein,
befanden die Richter inLausanne und
hielten fest, dass ein blosserLadendieb-
stahlkeinen Grund für einen obligato-
rischenLandesverweis darstellt – zumal
einLadendiebstahl nicht als sogenannte
Katalogtat zu qualifizieren sei.
Mit der Annahme derAusschaffungs-
initiative wurde eineReihe von Straf-
taten in dieVerfassung aufgenommen,
die eine obligatorischeLandesverwei-
sung zurFolge haben.Dazu gehört etwa
auch das «Einbruchsdelikt», das indes
in derSystematik des schweizerischen
Strafrechts als Begriffso nicht existiert.
Der Begriff wird in Artikel 66ades Straf-
gesetzbuches präzisiert, der sämtliche
Anlasstaten füreinenobligatorischen
Landesverweis,eben jene Katalogta-
ten, auflistet. Demnach erfolgt dieser –
unabhängig von der Höhe der Strafe –
dann, wenn einAusländer wegen Dieb-
stahls inVerbindung mit Hausfriedens-
bruch bestraft wird.
ImkonkretenFall wurde der be-
schwerdeführende Ausländer wegen
mehrfachen Diebstahls, Sachbeschädi-
gung, mehrfachen Hausfriedensbruchs,
mehrfachenVergehens und Übertretun-
gen gegen das Betäubungsmittelgesetz
verurteilt.Während die erste Instanz auf
die Anordnung einesLandesverweises
verzichtete, verwies das Zürcher Ober-
gericht den Beschwerdeführer für fünf
Jahre desLandes. Der Mann war einer-
seits in das dermatologische Ambulato-
rium des Zürcher StadtspitalsTr iemli
eingebrochen und hatteFotoapparate
samt Zubehör imWert von gut 5 000
Franken gestohlen. Andererseits hatte
er sich trotz Hausverboten inFilialen
von Coop und Manor begeben, wo er
ebenfalls Dinge entwendete.
Vor Bundesgericht machte der Mann
geltend, einzig der Einbruch in das der-
matologische Ambulatorium stelle eine
Katalogtat für eine obligatorischeLan-
desverweisung dar.EinLadendiebstahl
inVerbindung mit Hausfriedensbruch
sei hingegenkeine Katalogtat. Die bei-
den Kaufhäuser Coop und Manor seien
öffentlich zugängliche Orte, jeder und
jedekönne sie zuLadenöffnungszeiten
betreten. Dies sah auch die erste Instanz
so, während das Zürcher Obergericht
davon ausging, der Mann sei wegen
mehrfachen Diebstahls inVerbindung
mit mehrfachem Hausfriedensbruch
verurteilt worden und habe damit eine
Katalogtat begangen.
Das Bundesgericht stützt indes die
Argumentation der ersten Instanz und
derLiteratur.Massgebend sei bei der
Auslegung des entsprechenden Artikels
im Strafgesetzbuch derWortlaut der
Bundesverfassung, in der eben unspe-
zifisch von «Einbruchsdelikt» dieRede
ist. Nach demVerhältnismässigkeits-
prinzip sei nicht anzunehmen, dass ein
Ladendiebstahlunter schlichterVerlet-
zung eines (privatrechtlichen) Hausver-
bots in einem dem Publikum offen ste-
hendenVerkaufsgeschäft zu einer obli-
gatorischenLandesverweisung führe.
Der entsprechende Artikel des Straf-
gesetzbuches (Art. 66a Abs.1lit. d) sei
daher im Sinne der Bundesverfassung
tatsächlich als Einschleich- oder Ein-
bruchdiebstahl auszulegen. Der gän-
gigeLadendiebstahl inVerbindung mit
Hausfriedensbruch, der beiVerletzung
eines Hausverbots in einem Kaufhaus
vorliege, falle hingegen nicht unter den
besagten Artikel.
Abschliessend hiess das Bundes-
gericht die Beschwerde des Mannes gut.
Es hält fest, dieVorinstanz habe das Bun-
desrecht verletzt, indem es denLandes-
verweisauchgestützt auf dieLaden-
diebstähle ausgesprochen habe. DieVor-
instanz muss nun über die Bücher und
entscheiden, ob der Einbruch ins Ambu-
latorium allein ausreicht, um einen obli-
gatorischenLandesverweis zu verhängen.
Urteil 6B_1221/2018 vom 27.9. 19 – BGE-
Publika tion.