Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 SCHWEIZ


Ausgebeutete suchen selten von sichaus Hilfe. SIMONTANNER / NZZ

Zum Schuften in die Schweiz


Opfer vonMenschenhandel bleiben oft unter dem Radar der Behö rden


Nicht nur in der Prostitution,


sondern auch in derBaubranche


oder der Gastronomie werden


Menschen in der Schweiz


ausgebeutet. Die Täter


zurRechenschaft zu ziehen,


ist schwierig.


LARISSA RHYN


Er hauste in der Vorratskammer,
kochte und putzte bis zu 14 Stunden
amTag – einJahr lang. Dann wurde
die BernerFremdenpolizei per Zufall
auf den jungen Chinesen aufmerksam.
Er war in die Schweiz gekommen,um
an einer Hotelfachschule zu studieren.
Dort fing er aber nie an. Stattdessen
musste er in einem asiatischenRestau-
rant arbeiten. Er war völlig isoliert und
bekam einen Hungerlohn.
Moderne Sklaverei nimmt vieleFor-
men an. Bekannt sind vor allemFälle,
bei denenFrauen unter Drohungen in
die Schweiz gebracht und zur Prostitu-
tion gezwungen werden. Die wenigsten
wissen, dass Menschenhandel auch auf
demBau, in Haushalten oder inRestau-
rants existiert.«Was, das passiert hier bei
uns?Daskann doch nicht sein!» Sätze
wie diese bekommt Alexander Ott, der
Chef der BernerFremdenpolizei oft zu
hören.Dashabe auch damitzutun, dass
falscheVorstellungen kursierten, wie
ein Opfer von Menschenhandel aus-
sehe, sagt er. «Die meisten Leute erwar-
ten eine ausgemergelteFrau mit lauter
blauen Flecken.» InWirklichkeit sieht
manden Opfern oft nicht an, was sie
durchmachen müssen.


Schlägestatt Lohn


Der Bundesrat bezeichnet den Men-
schenhandel zwecksArbeitsausbeu-
tung als «wenig bekanntes und ver-
mutlich unterschätztes Phänomen».
Wie viele Opfer es in der Schweiz gibt,
ist nicht bekannt.Das Gleiche gilt auch
für dieOpfersexuellerAusbeutung, ob-
wohl sie häufiger entdeckt werden. Die
kantonalen Opferberatungsstellen und
dieFachstelle fürFrauenhandel und
Frauenmigration (FIZ) haben letztes
Jahr zusammen rund 360Personen im
Zusammenhang mit Menschenhandel
beraten. DieDunkelziffer dürfte deut-
lich höher sein.
Opfer vonMenschenhandel suchen
selten selbst Hilfe. Ohne gezielteKon-
trollen durchPolizei und andere Behör-
denkommen dieFälle daher kaum ans
Licht.Während diePolizei im Milieu seit
Jahren gezielt nach Opfern sexueller
Ausbeutung sucht,hat sie dieArbeits-
ausbeutung noch zu wenig auf dem
Radar. «Wir haben erst vor kurzem an-
gefangen, Schwarzarbeiter auch als
potenzielle Opfer von Menschenhandel
zu sehen», erklärt Ott.
Bisher waren die meisten Opfer,
die entdeckt wurden,Frauen. Doch
nun zeigt sich, dass auch viele Män-
ner ausgebeutet werden.Während es
für Frauen die Opferfachstelle FIZ
gibt, fehlen Beratungsangebote und
Unterbringungsmöglichkeiten für Män-
ner. «Das ist ein Riesenproblem», sagt
Ott. Beratungsstellen sind zentral, weil
die Opfer ihreSituation zu Beginnoft
schlecht einordnenkönnen. Sie brau-
chen Bedenkzeit, bissie sichentschei-
den, vor Gericht auszusagen.Viele
vertrauen den Behörden nicht, man-
che schämen sich für ihre Situation.
Ohne ihreAussagekommt es jedoch
oft zukeinem Urteil gegen die Täter,
denn Sachbeweisereichen meist nicht.
«Ohne Opferschutzkein Prozess gegen
die Täter»,fasstOttzusammen.
Die FIZ nimmt vereinzelt auch Män-
ner auf. Docheigentlich ist ihr Ange-
bot spezifisch aufFrauen ausgerichtet.
Die meisten sind Opfer von Menschen-
handel zwecks sexuellerAusbeutung.
Mittlerweilekommen laut EvaAndo-
nie von der FIZ aber auch immer mehr
Fälle von ArbeitsausbeutungansLicht.
Meist handle es sich umFrauen, die in
Privathaushalten ausgebeutet werden:
«Sie müssen rund um die Uhr verfüg-


bar sein, um sich um Kinder oder ältere
Leute zu kümmern oder zu putzen.»
Das hat auch Elena* erlebt. Die
20-Jährige lebte mit ihrerTochter in
armenVerhältnissen in einem Land
in Osteuropa.Ihre Mutter stellte den
Kontakt zu einerFamilie in der Schweiz
her, wo Elena imHaushalt arbeiten und
sich um die Kinder kümmern sollte. Ihr
wurden nicht nurKost und Logis, son-
dernauchvielGeld versprochen. Als
sie in der Schweiz ankam, nahm ihr die
Familie denPass ab und zwangsie, fast
rund um die Uhr zu arbeiten. Lohn er-
hielt siekeinen,sie wurde regelmässig
geschlagen. Als einem Nachbarn auf-
fiel, dass Elena Spuren von Misshand-
lungen aufwies, brachte er sie zurPoli-
zei. Diese ermittelte anfangs nur wegen
Körperverletzung, verwies Elena aber
an die FIZ. In den Gesprächen mit der
Fachstelle erzählte die jungeFrau, was
sie durchmachen musste. Es kam zu
einer Gerichtsverhandlung, und das
Täterpaar wurde wegen Menschen-
handels verurteilt.

Verstärkte Zusammenarbeit


Anfang Oktober hateineExperten-
gruppe des Europarats die Schweiz in
einem Bericht kritisiert. Sie hatte unter-
sucht, wie Menschenhandel hierzu-
lande geahndet wird und welche Mög-
lichkeiten den Opfern geboten werden.
Die Experten stellen zwar fest, dass es
in den letztenJahrenFortschritte gab.
Tr otzdem bemängeln sie, die Schweiz
tue noch immer nicht genug, um Opfer
zu identifizieren, insbesondere bei der
Arbeitsausbeutung. Und es gebe grosse
kantonale Unterschiede: Nicht überall
werde gleich viel getan, um Betroffenen
zu helfen.
Der Bund setzt derzeit den zweiten
Aktionsplan gegen Menschenhandel
um. Die Zusammenarbeit verschiede-
ner Stellen wurde intensiviert, medizini-
schesPersonal und Arbeitsinspektoren
wurden geschult. Ott und seineKolle-
gen bei derFremdenpolizei ziehen mitt-
lerweile immer andereStellen mit ein,
wenn sie einen Betriebkontrollieren –
beispielsweise Arbeitsinspektoren oder
die Kantonspolizei. «Jede Behörde ach-
tet auf andereFaktoren. Die müssen wir
kombinieren, damit wir Opfer von Men-
schenhandel identifizierenkönnen.»
Es kann sein, dassPapiere und Lohn
eines Betroffenen auf den ersten Blick
stimmen, er aber alles Geld an seinen
Arbeitgeber abtreten muss. Das sei nicht
leicht zu entdecken. Die Zusammen-
arbeit sei auch deshalb wichtig, weil das
föderaleSystem der Schweiz von den
Tätern leicht ausgenutzt werdenkönne:

«Sie gehen einfach in einen anderen
Kanton oder wechselndieBranche – so
verschwinden sie leicht vomRadar.»
2016 hat die Universität Neuenburg
in einer ersten Studie untersucht, in
welchen Branchen Arbeitsausbeutung
häufig vorkommt und woher die Opfer
stammen. Dabei stellten dieForscher
klare Muster fest: ImBaugewerbe sind
fast nur Männer aus Osteuropa oder
demBalkan betroffen. Ähnlich ist es in
derLandwirtschaft. In der Gastronomie
sind esFrauen und Männer, viele stam-
men aus Asien.Frauen, die im Haushalt
ausgebeutet werden, stammen derweil
oft aus Südamerika oder Afrika.
Gerade im Pflegebereich müsse in
Zukunft stärker kontrolliert werden,
findetPolizeichef Ott.Das sei jedoch
schwierig, weil illegal in Haushalten

Arbeitende schwer zu entdecken seien.
Wichtig sei es auch,sich nicht nur auf
die bekannten Problembranchen zu
fokussieren. So gebe es beispielsweise
zunehmend Hinweise aufAusbeutung
beiPaketzustellern.
Hinter Menschenhandel müssen
keine internationalenVerbrechernetz-
werkestehen. Es gibt auch Einzelperso-
nen, die Menschen mit Inseraten in die
Schweiz locken, um sie auszubeuten. Oft
kommen die Täter aus demselbenLand
wie ihre Opfer. Ott weissaber auch von
einemFall, in dem einSchweizerBauer
seinen Saisonarbeitern nur einen Hun-
gerlohn bezahlte. Sie schliefen imAuto
neben demFeld. DiePolizei wurde auf
sie aufmerksam, doch ein Prozess kam
nicht zustande.

Schwierige Beweislage


Viele Opfer haben einen ungesicherten
Aufenthaltsstatus und sind in einer pre-
kären finanziellen Situation.Dadurch
werden sie vomAusbeuter abhängig.
Andonie und Ott sagen beide, es gebe
einen grossen Graubereich. Nicht immer
ist klar, ob die Täter oder Täterinnen
ihreOpfer gezwungen haben.«Manche

Opfer willigen zu Beginn auch ein, für
einen schlechten Lohn zu arbeiten, weil
siekeine Alternative sehen.» Erst spä-
ter werde dann psychischer Druck auf
sie ausgeübt, womit dieAusbeutung
offensichtlich werde.Ottergänzt, oft
hätten die Betroffenen in ihrer Hei-
mat kaumPerspektiven.Danähmen
sie jede noch so schlechte Arbeit an.
Gleichzeitig sähen sich gerade Männer
oft selbst nicht als Opfer. «Das macht
es für die Täter einfacher und für uns
umso schwieriger.»
In der Schweiz gibt es nur wenige
Verurteilungen wegen Menschen-
handels. Oft ist die Beweislage schwie-
rig – gerade, wennkeinesexuelleAus-
beutung vorliegt.Laut einer Studie des
Kompetenzzentrums für Menschen-
rechte, die im Mai erschienen ist, kam
es in der Schweiz bisher nur in sechs
Fällen zu einer Verurteilung wegen
Menschenhandels zwecks Arbeitsaus-
beutung. Die Autoren kamen zum
Schluss, dass die mangelnde juristi-
sche Definition des Begriffs «Arbeits-
ausbeutung» problematisch ist. Dies
führe dazu, dass ähnlicheFälle unter-
schiedlich beurteilt würden.

Neuer Straftatbestand?


Runa Meier ist Staatsanwältin in Zürich
und spezialisiert auf Menschenhandel.
Sie sagt:«Weil es in diesem Bereich bis
heute so wenige Urteile gibt, fehlt es
an derRechtsprechung, an der sich die
Strafverfolgungsbehörden orientieren
könnten.» Derzeit sind bei der Staats-
anwaltschaft Zürich mehrere Fälle
hängig,in denen einemVerdacht auf
Arbeitsausbeutung nachgegangen wird.
Für ein Urteil wegen Menschen-
handels muss man beweisenkönnen,
dass der Täter einen Menschen ange-
worben hat, um dessen Arbeitskraft aus-
zubeuten. «Das ist extrem schwierig»,
erklärt Meier. Bei der sexuellenAus-
beutung gibt es zusätzlich den Straf-
tatbestand derFörderung der Prosti-
tution. «So kann ein Täter trotzdem
bestraft werden, wenn für Menschen-
handel die Beweise fehlen», sagt Meier.
Bei der Arbeitsausbeutung fehlt eine
vergleichbare gesetzlicheRegelung. Es
kann höchstens aufWucher plädiert
werden.Darum wird derzeit diskutiert,
ob ein neuerTatbestand geschaffen wer-
den soll. Doch selbst damit wären nicht
alle Probleme gelöst: «Am Ende sind
wir auf dieAussagen des Opfers ange-
wiesen, um eineVerurteilung zu errei-
chen.» Diese zu bekommen, bleibt die
zentrale Herausforderung.

*Namegeändert.

Damuss


der Teufel


amWerk sein


Die Freikirche ICF reagiert
gar nich t «easy» auf Kritik

SIMON HEHLI

Sie ist cool und hip: DieFreikirche ICF
hat erfolgreich moderne Gottesdienst-
formen aus den USA in die Schweiz
importiert und begeistert mit «cele-
brations» undJesus-Pop insbesondere
junge Leute aus dem evangelikalen
Milieu. Doch wenn sie mit Kritik einge-
deckt werden, sind die ICF-Frontleute
ga r nicht mehr «easy» drauf.
EinYoutube-Video zeigt, wie der
Chefpastor Leo Bigger bei seiner Pre-
digt am Bettag auf der Bühne der Sam-
sung Hall inDübendorf steht – und da-
bei züngelt und zischt wie eine Schlange.
Wen er damit nachahmen will, wird
rasch klar: denTeufel. Schliesslich muss
der Höllenfürst amWerk sein, wenn der
«Blick» negative Schlagzeilen über ICF
und Bigger selber bringt.
Der einenTag vor der Predigt publi-
zierte Artikel dreht sich um den ehema-
li gen ICF-Anhänger Pierre Singer, der
sich enttäuscht von derFreikirche ab-
gewandt hat.Titel: «Dieser Kirche geht
es nur ums Geld!»Das Heil der Gläu-
bigen interessiere bei ICF niemanden,
sagt Singer. Die hierarchische Struk-
tur der Kirche diene dem Zweck, dass
wenige Chefs «möglichst vielKohle»
machenkönnten.

Geldzurückgefordert


In dem Streitgeht es um eine Spende
von 60 00 Franken, die Singer 20 16 an
den ICF-Ableger Mittelland in Oftrin-
gen überwies, obwohl er als IV-Bezüger
nicht aufRosen gebettet ist. 20 18 wollte
er die Erwachsenenmatur machen, doch
ihm fehlte das Geld. Deshalb fragte er
die Kirche, diesichmit ihrem Engage-
ment für die Schwachen brüstet, ob er
2000 Franken zurückerhaltenkönne.
Das lehnteICFab, da das Geld bereits
«zweckmässig eingesetzt» worden sei.
Stattdessen bot die Kirche Singer
3000 Franken zweckgebunden für die
Ausbildung an. Umstritten ist, ob es
sich dabei um eine Spendeoder um ein
Darlehen handelte.Auf jedenFall wollte
ICF das Geld zurückhaben, als Singer
dieAusbildung abbrach – zumal sich
dieser nie in einer Notlage befunden
habe.Singer gab dem Druck nachund
überwies die 30 00 Franken, behielt aber
einen Groll auf die Kirche.
Doch zurück zum ICF-Gründer
Bigger.Der «Blick» bezeichnete ihn
als «Geldscheinheiligen». Die Kritik
ist nicht neu, da ICF einWohlstands-
evangelium predigt – und diePastoren
jeweils sehr offensiv die Anhänger auf-
fordern, den biblischen «Zehnten» zu
leisten, also 10 Prozent des Einkommens
an die Kirche zu spenden. In seiner Bet-
tagspredigt brüstet sich Bigger damit,
dass er zu den fünf «top givers» bei ICF
gehöre – er liebt es, englische Begriffe
einzustreuen.«Wenn ich höre,dass ich
reich werde wegen ICF, denke ich: Nein,
ICF wirdreich wegen mir!»

DualistischesWeltbild


DochderTeufelkönnealles verdre-
hen, erzählt Bigger seinen Anhängern.
«Meine grösste Stärke ist das Spenden.»
Und diese Stärke sei vom «Blick» öffent-
lich angegriffen worden. «DerTeufel
greift eben nicht nur deine Schwäche
an, sondern auch deine Stärke.» Sol-
cheAussagen sind typisch für das dua-
listischeWeltbild vieler Evangelikaler.
Es gibt nicht nur das Gute und Helle in
der Gestalt von Gott,sondern auch das
Böse undDunkle, dasreal in dieWelt
hineinwirkt: der Leibhaftige und allerlei
Dämonen. Eine solche Geisteshaltung
kann problematisch für die psychische
Gesundheit sein.
Der Streit zwischen ICF und Pierre
Singer geht nun in die nächsteRunde.
DieFreikirche drohte in einer Stel-
lungnahme nach dem «Blick»-Artikel
mitrechtlichen Schritten. Singer wie-
derum sieht sich durch das Communi-
qué verunglimpft – und hat eine Straf-
anzeige wegen Ehrverletzung gegen
ICF eingereicht.

Gerade Männer sähen
sich oft selbst nicht als
Opfer, sagt Ott. «Das
macht es für die Täter
einfacher und für uns
umso schwieriger.»
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