Freitag, 18. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17
Das neueWaffengesetz führt bei der Kantonspolizei
zueinem grossen Mehraufwand SEITE 18
«Wir müssen frecher sein», sagt die designierte
Geschäftsführerin der FDP des Kantons Zürich SEITE 19
Die Baldenwegs bringen Bilder zum Klingen
Die drei Geschwister haben schon viele Werbe-Soundt racks geliefert und beweisen mehr und mehr auch ihr Talent fürs grosse Kino
Den Rhythmus haben Diego,
Nora und LionelBaldenweg
in dieWiege gelegt erhalten.
Als Filmmusiker erleben sie
nicht nur mit «Zwingli» einen
erntereichen Herbst.
URS BÜHLER
Das mussFügung sein,auch wenn es
kaum jemandem im Publikum auffallen
dürfte: Unter die Chorgesänge im Kino-
kassenschlager «Zwingli» legt sich hier
und da ein dezenterTeppich aus All-
tagsgeräuschen.Für dieAufzeichnung
dieserPassagen hatten dieFilmkompo-
nisten, die nun mit dieser Arbeit in der
Spitzengruppe um einen grossen inter-
nationalen Publikumspreis mitmischen,
eine Nacht lang die Zürcher Neumüns-
terkirche nutzenkönnen.Dann muss-
ten sie feststellen, dass unter dem Got-
teshaus eine S-Bahn verkehrt – und das
eine oder andere Brummen hinterlassen
hatte. Das passt insofern so wunderbar
in die Biografie von Diego, Nora und
LionelBaldenweg, als ihnen das krea-
tive Spiel mit den Klängen des Alltags
in dieWiege gelegt worden ist.
Bandmit den Eltern
Ihr Vater Roland alias Pfuri, gelernter
Handbuchbinder, wurde in den siebzi-
ger Jahren mit derFolk- und Bluesband
Pfuri, Gorps & Kniri einer der bekann-
testen Musiker desLandes. DasTrio
machte alles Erdenkliche zum Instru-
ment,vom Rasenmäher bis zum Gar-
tenschlauch (und hätte bei Gelegenheit
gewiss auch mit einer S-Bahn-Lokomo-
tive Musik gemacht). Die Mutter Marie-
Claire wiederum adelt als bildende
Künstlerin Plastikeinkaufstaschen.
Im Teenageralter gründeten die Ge-
schwister zusammen mit den Eltern die
Band «Trash Bag», die rund zehnJahre
lang unter Einbezug von Kehricht-
säcken, Mülltonnen und Benzinkanis-
tern musizierte.An Wochenenden trat
mangemeinsam auf,wie sich dasTrio
bei unseremTreffen in Zürich erinnert.
Unter derWoche besuchten die beiden
Jüngeren die Bezirksschule und Lio-
nel, der Älteste, die KV-Lehre. Danach
arbeitete er zunächst alsBanker, Diego
machte einenWirtschaftsabschluss, Nora
liess sich nach der Matura zur Mode-
fachfrau ausbilden und ist heute inter-
national freiberuflich als Kreativdirek-
torin tätig. Doch der Musik sind sie ge-
meinsam treu geblieben.
Zunächst hatten sie zu dritt ihre
eigeneBand gegründet; doch die Bühne
und dasRampenlicht liebten sie, noch
heute einescheueSeite zeigend, nicht
halb so sehr wie ihrVater.Als jemand
sie einesTages darauf hinwies, dass ihre
Kompositionen sich prima fürWerbe-
spots eignenkönnten, waren sie ganz
Ohr. Eins ergab das andere, bald waren
Kampagnen mit ihren Klängen unter-
legt, und 2004 gründeten sie in Zürich
ihreFirma Great Garbo. Vier Jahre spä-
ter kratzten sie ihr Geld zusammen und
reisten nach NewYork mit dem kühnen
Plan, ihr Arbeitsfeld zu erweitern. Durch
Fügungen holten sie sich dort den Zu-
schlag für eine riesige Kampagne, von
da an ging es weiter bergauf. Über drei-
hundertWerbeaufträge haben sie inzwi-
schenrealisiert,von Aldi bis Sony.EDI-
Awards zeugen von der Anerkennung
für ihreArbeit, die ihnen nach wie vor
genauso am Herzen liegt wie ihr En-
gagement in Spielfilmen.
Eine weitere Fügung
Der Sprung zum Kino aber lag auf der
Hand.Undwieder diente eineFügung
als Türöf fnerin. Der ZürcherRegisseur
Michael Steiner hatte eigentlich nur an-
fragen wollen, ob er für seine Kinder-
buchverfilmung«Mein Name ist Eugen»
(2006) einen Song ihresVaters verwenden
könnte. Mit seinemKomponistenAdrian
Frutiger kam er vorbei, ganz nebenbei
spielte Diego ihnen einige Eigenkomposi-
tionen auf demSynthesizer vor.Am Ende
stammte etwa einFünftel derFilmmusik
von denBaldenwegs, wie sie berichten.
Seither hat die Kinoarbeit mehr und
mehrRaum eingenommen, gegen zwan-
zig Filme sind es nun schon, und Mal für
Mal eröffneten sie sich neue Horizonte.
Für Cihan Inans «180 Grad» etwa arbei-
teten sie erstmals mit einem Orches-
ter – dem der ZürcherTonhalle unter
David Zinman. Sie hätten damit hier-
zulande einen neuen Standard gesetzt,
schrieb die Suisa, als sie die Arbeit als
besteFilmmusik 2010 prämierte. Sie-
ben Jahre später belebten sie «Die
letztePointe» des jazzbegeistertenRolf
Lyssy mit einem wunderbar swingenden
Soundtrack, wobei sich Eigenkomposi-
tionen nahtlos in einige Klassiker ein-
fügen. Schon dafür wurden sie für einen
internationalen Preis nominiert.
Til Schweiger engagiertesie für das
Remake seinesFilms «Honig imKopf»
für den amerikanischen Markt. Die bis-
her längste Zusammenarbeit aber ver-
bindet sie mit Niklaus Hilber: Zu dreien
seiner Spielfilme in Folge steuerten
sie den Soundtrack bei – nicht aber
zu «Bruno Manser – Die Stimme des
Regenwalds»:Fürdie Klangweltdieses
Grossprojekts wurde der Oscar-Preis-
träger GabrielYared verpflichtet, der
leider gar dick aufträgt.
Dazu äussern sich die loyalenBal-
denwegs nicht.Dass sie nun aber mit
«Zwingli» für den Publikumspreis des
World SoundtrackAward nominiert
sind, erfüllt sie mit Stolz: Die Zuschauer
rund um den Globuskonnten ihreFavo-
riten aus einer fünfzig Produktionen
umfassenden Shortlist wählen,zusam-
mengestellt von der InternationalFilm
Music Critics Association. ImFinal-
Quintett, dessen Sieger diesenFreitag-
abend beim Filmfestival Gent verkündet
werden, messen sie sich nun mit Holly-
woodgrössen wie Oscar-PreisträgerJohn
Powell («How toTrain your Dragon»).
ZürichsVorzüge
Als eine der erstaunlichsten Qualitä-
ten diesesTrios kristallisiert sich die
musikalischeVielseitigkeit heraus. Mit
demJournalisten teilt es indes eine Ab-
neigung gegen den nicht nur in Holly-
wood verbreiteten Hang, dem Publi-
kum in traurigen Szenen dieTriste sse
mit opulenten Streichern aufzudrängen.
Viel eher müsse die Musik die Hand-
lung mitunter brechen, um einen ande-
ren emotionalen Bogen zu schlagen,er-
klärt Diego:«Wir komponieren lieber
auf die stärksten Szenen einesFilms hin,
sodass diese dann ohneMusik auskom-
men. Denn wir wollen nicht tapezieren,
sondern einenKern finden.»
Zürich bildet weiter ihren Lebens-
mi ttelpunkt (wobei Nora einen zwei-
ten Wohnsitzin Paris hat): AlsVielrei-
sende halten sie die Limmatstadt für
perfekt gelegen, sie schätzen dieRuhe
und dierare n Ablenkungen etwaim
Vergleich zu Los Angeles, wo sie jeden
Abend an einem anderen Event seien.
Dass das ZurichFilm Festival die Stadt
einigeTage lang zu einem internationa-
len Branchentreffpunkt macht, begrüs-
sen sie aber, sie nutzen es jeweils inten-
siv, wie auchPendantsim Ausland:Von
Cannesbis nachVenedigstärken sie ihr
Netzwerk und sehen sichFilme an, bis
die Augen (und Ohren) brennen.
Von ihren Eltern haben die drei
unteranderem gelernt, offen, mutig
und zuversichtlich zu sein, wie sie fest-
halten, während sie in Kindheitserinne-
rungen schwelgen. «Es chunt scho guet»,
hätten diese stetsgesagt,etwaals die
Familie mit Sack und Pack nachAus-
tralien auswanderte: Sechs-, acht- und
zehnjährig waren sie da, undals man
im Teenageralter wieder in die Heimat
zurückkehrte, hatten sie auch den aus-
tralischenPass.
Der über Jahrzehnte gewachsene
Familiengeist ist noch hellwach, fast
symbiotisch wirken die Geschwister im
Gespräch. Siekorrigieren sich behutsam
gegenseitig, und selbst wenn sie einan-
de r insWort fallen, wirkt das so orga-
nisch,als übergäbe ein Instrument dem
anderen die Stimme. Im Studio, unter
dem hohenVerantwortungs- und Zeit-
druck,fliegen zwar gelegentlich die
Fetzen. Doch es gehe dabei stets um
die Sache, betont Nora, und drei Stun-
den später sitze man wieder lachend
am Esstisch zusammen. Schliesslich ge-
hört zu ihremkostspieligenTonatelier
in ZürichWiedikon ja auch eine grosse
Küche, in die sich Lionel gerne zum
Rüsten zurückzieht, während die ande-
ren überkniffligenPassagen brüten.
Grundsätzlich ist er als Produzent für
das Geschäftliche zuständig, Diego ist
der Komponist, Nora schreibt und singt.
Doch die Arbeiten gehenfliessend in-
einander über, so dass am Endealle für
alles verantwortlich sind. Sie zahlen sich
den gleichen Lohn aus, auf die Stellen-
prozente hochgerechnet, und firmieren
bei Kinofilmen offiziell als gleichwerti-
ges Trio: «DiegoBaldenweg mit Nora
Baldenweg & LionelBaldenweg».
Musik alsTeamplayerin
«Wir verstehen uns alsTeamplayer,und
Musik ist dieTeamplayerin ineinem
Film», sagt Lionel. Es gehe darum,
das Gesamtprodukt zu verbessern, da-
für ordne man sich gerne denVorstel-
lungenandererunter.Allerdings hal-
ten die drei den für den Soundtrack
reservierten Budgetanteil – bei hiesi-
genProduktionen schätzen sie ihn auf
rund ein Prozent – für zu tief.Auch sei
der Lohn meist für einePerson berech-
net, selbst wenn hundert Musiker einbe-
zogen würden. Immerhin aber scheine
derFilmmusik, die in den letztenJah-
ren oft in den Hintergrund gedrängt
worden sei, nun eher wieder mehr Be-
deutung beigemessen zu werden.Wie
aberkonnten sich beispielsweise Nino
Rotas Melodien zur«The Godfather»-
Trilogie derart inskollektive Gedächt-
nis einprägen? Diego verweistunter
anderem darauf, dass diesen damals
noch dialogfreie Momente ungeteilter
Aufmerksamkeitzugestanden worden
seien. Allerdings lassen sich die Epo-
chen ohnehin nur bedingt vergleichen,
beeinflusst doch zum Beispiel dieer-
höhte Schnittfrequenz auch dasTempo
des Soundtracks.
Es geht um Rhythmus undTiming,
wie so oft in derKunst – gepaart mit
Beschränkung: Bei «Zwingli» etwa ver-
warf man die ursprünglicheRegie-Idee,
der Orgel eine dominanteRolle einzu-
räumen, da dies zumehe r sachlichen
Tenor desFilm nicht gepasst hätte.Da-
für symbolisiert beispielsweise die Solo-
violine vonDaniel Hope den scharfen
Verstand desReformators.Ausser den
gregorianischen Gesängen und einigen
weiteren auf der Leinwand dargebote-
nen Stücken ist alles von denBalden-
wegs komponiert. Ihre ursprüngliche
Fassung hatten sie für einerein elek-
tronische Umsetzunggeschrieben, die
aus Kostengründen vorgesehen war.
Schliesslich abe r konnten sieeinen
dreissigköpfigen Chor und ebenso viele
Musiker des Zürcher Kammerorc hes-
terseinsetzen–und überarbeiteten das
Ganze stark, um dieser Besetzung ge-
recht zu werden.
Bei diesemVorhaben hatte die C-
Films-Produzentin AnneWalser, eine
ihrer grössteFörderinnen, sie schon
zweiJahre vor den Dreharbeiten und
noch vor derWahl desRegisseurs ein-
bezogen. Meist stösst dasTrio aber spä-
ter zueinem Projekt,wobeies mit einem
etwa zweiwöchigen Brainstormingein-
steigt.Da werden Gefühle erörtert, die
das Drehbuch auslöst, erste Ideen ange-
tönt, man ist noch offen für alles und der
Weg noch lang: Man muss bereit sein,
dann nach der Montage desFilms das
ganzeKonzept noch einmal über den
Haufen zu werfen.
Ein Kreisschliesstsich
Die Erfolgsgeschichte dieser Geschwis-
ter ineinem hartenWettbewerb hat
auch damit zu tun, dass sie auf dem
Boden bleiben–und sich doch Schritt
für Schritt in neue Gebiete vorwagen.
So haben sie sich nun, mit erheblichen
Investitionen in dieTechnik, den auf-
strebenden Bereich der Serien erschlos-
sen:Just dieseWoche startet die auf
ein jugendliches Publikum zugeschnit-
tene Netflix-Sci-Fi-Serie «The Unlis-
ted», deren Soundtrack sie inAustralien
produziert haben – eine vollumfänglich
elektronische Musik, mit der sie stilis-
tisch wieder Neuland betreten.
Und so wird dies zueinemHerbst
der Marksteine in ihrerLaufbahn. Ende
Monat läuft «Zwingli» in Deutschland
an, demnächst startet in Asien die
japanischeVersion von Mike Schae-
rers «Die Kleine Hexe»: Deren ver-
spielter, mitdem SchweizerFilmpreis
2018 prämierter Soundtrack gehört zu
ihren schönsten Arbeiten, und sie blü-
hen besondersauf,wenn sie davon er-
zählen. Das in diesesWerk integrierte
Konzert derKüchengeräte kann als wei-
tere Reminiszenzan ihre Eltern ge-
sehen werden, derVater hat sogar mit-
geholfen dabei. Und so webt dasTrio
auf Leinwänden am Klang- und Ge-
räuschteppich weiter, den schon seine
Eltern ausgerollt haben.
Diego,Noraund LionelBaldenweg(von oben nachunten)sindganz Ohr,wenn es
ums Filmemachen geht. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
«Wir komponieren
lieber auf die stärksten
Szenen eines Films hin,
so dass diese dann ohne
Musik auskommen.
Denn wir wollen nicht
tapezieren, sondern
einen Kern finden.»
Diego Baldenweg
Til Schweigerengagierte
sie für das Remake
seines Films«Honig
im Kopf» für den
amerikanischen Markt.