Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 23


Im Osten Wiens liegen reiche Erdölvorkommen –


einst ein begehrtes Ziel für Hitler und die Sowjets SEITE 25


Wie die nordirische Grenze


zum Verschwinden gebracht werden soll SEITE 27


Schneider liefert oft, aber nicht immer

Der Nestlé-Chef hat den Grosskonzern zueinem Liebling der Anleger gemacht


SERGIO AIOLFI


Für einmal waren die Investoren von
dem, was Nestlé bot, nicht begeistert.
Der Konzern hat mit dem in den ers-
ten neun Monaten erzielten organi-
schenUmsatzwachstum von 3,7% die
Erwartungen wohl erfüllt.Gleichwohl
hatte man am Marktoffenbar auf mehr
gehofft, weshalb die Nestlé-Titel am
Donnerstag deutlich nachgaben.Daran
konnte auch die Ankündigung eines
neuen umfangreichen Aktienrückkauf-
programms nichts ändern.
Die Anleger werden denKursrück-
gang verschmerzenkönnen. Sobald sie
den Blick über dasTagesgeschehen hin-
aus auf den längeren Zeithorizont rich-
ten, werden sie gewahr, wie gut sie mit
Nestlé gefahren sind. Seit AnfangJahr
hat derTitel um 33% zugelegt und da-
mit den Börsenindex SMI (+19%) weit
hinter sich gelassen. Anfang September
wurde mit 113Fr. gar ein Allzeithoch
verzeichnet. Der Exploit 2019 steht im
markantenKontrast zurKursentwick-
lung derJahre zuvor, als Nestlé nicht
mehr als einDurchschnitts-Valor war.
Aktie und SMI bewegten sich parallel.


Genaunach Drehbuch


Die Hausse spiegelt die Zuversicht,wel-
che die Nestlé-Investoren erfasst hat.
Das Management unter der Ägide von
Mark Schneider ist zwar schonseitAn-
fang 2017 im Amt. Aber erst imVer-
laufe diesesJahres scheinen die An-
leger zur Überzeugung gelangt zusein,
dass es der neuen Crew gelingenwird,
dem altenTanker eine neue Richtung
zu geben und dieFahrt zu beschleuni-
gen. Das wäre, wenn es gelänge, eine
epochaleTat. In denvergangenen zwei
Jahrzehnten hat das organischeWachs-
tum desKonzerns, das sich früher zwi-
schen5 und 10% bewegt hatte, kontinu-
ierlich nachgelassen.
Nach dem Urteil des Analytikers
von Morgan Stanley hat Schneider ge-
nau das getan, was nach dem «klassi-
schen Drehbuch für einen neuen CEO»
zu tun war. Er hat denFreiraum, den
er von aussenkommend hatte, genutzt,
um die im «Nestlé-Modell» enthaltenen
Wachstumsziele (die längst nicht mehr
eingehalten worden waren) zukorri-
gieren. Er ging ohne Berührungsängste
leistungsschwacheBereicheanund be-
gann furchtlos, das Portfolio zu durch-
forsten. Und er formulierte neuerealis-
tische Ziele für 2020,die – so wie es aus-
sieht – wohl zu erreichen seinwerden.


Das imponierte nicht zuletzt denAnaly-
tikern,auf deren Beliebtheitsskalaer in-
zwischen weit nach oben gerückt ist;der
Food-Experte vonBaader Helvea be-
zeichnete ihn unlängst als «best in class».
Wie hat Schneider dieTransforma-
tion angepackt? In einem NZZ-Inter-
view 2018 betonte er, das Wachstum
müsse in Zukunft in erster Linie «von
innen»kommen,also organisch erzielt
werden, und nicht primär mithilfe des
Verkaufs und Zukaufs von Unterneh-
men. In derRetrospektive zeigt sich in-
dessen, dass es doch vor allem derPort-
folioumbau war, mit welchem demKon-
zern neue Akzente verliehen wurden.
Es gab spektakuläreTransaktionen. Die
Veräusserung des amerikanischen Süss-
warengeschäfts, der Starbucks-Lizenz-
Deal oder derVerkauf von Nestlé Skin
Health waren aber nur die Spitze des
Eisbergs, jene Geschäfte, die angesichts
ihrer Grösse für Schlagzeilen sorgten.
Das Gros der Zukäufe undVerkäufe
nahm man von aussen gar nicht zur
Kenntnis. Eine detaillierte M&A-Liste,
die von Morgan Stanleykompiliert wor-
den ist, zeigt, dass derKonzern seit 20 17

insgesamt18 Firmen verkauft und 19
übernommen hat.Damit ,so ist anzuneh-
men, ist die Bereinigung desPortfolios
noch lange nicht abgeschlossen.
Die mit Abstand prägendste und mit
7, 2Mrd.$kostspieligsteTransaktion war
die mit Starbucks vereinbarte Übertra-
gung von Lizenzrechten; Nestlé sicherte
sich damit das Privileg, die unter dem
Na men Starbucks geführtenKonsum-
und Gastronomieartikel weltweit zu
vermarkten. Die mächtige Marketing-
Maschinerie von Nestlé hat dafür ge-
sorgt,dass die Produkte derAmerikaner
heute in nicht weniger als 34Ländern
(Westeuropa und Asien) in den Super-

marktregalen zu finden sind. Inkeinem
dieserLänder (in denen Starbucks als
Cafékette, nicht aber alsKonsumarti-
kelhersteller bekannt ist) sei die Markt-
einführung enttäuschendverlaufen,ver-
sichert Schneider im Gespräch.Mit dem
Ausbau derKaffee-Aktivitätenkurbelt
Nestlé nicht nur das organischeWachs-
tum an; da die Profitabilität des Star-
bucks-Geschäfts höher ist als jene von
Nestlé, werden auch die Margen steigen.

HarzigesWassergeschäft


Schneider ist in seiner kurzenAmtszeit
viel gelungen; es gibt allerdings nochei-
nige grössere Probleme, die noch nicht
gelöst sind.DasWass ergeschäft zum
Beispiel harzt seitJahren, obschon die
Marktumstände eigentlich vorteilhaft
wären. NestléWaters hat in den ersten
neunMonatenur ein organisches Plus
von 0,5% ausgewiesen.Jetzt soll das Ge-
schäftreorganisiert werden; statt es wie
bisher zentral als eigene Einheit zu füh-
ren, wird es ab nächstemJahr in die drei
geografischen Zonen integriert werden.
Durch diese Dezentralisierung hofft

man, dieKompetenzen derVerkaufs-
mannschaften in den einzelnen Märk-
ten besser nutzen zukönnen. Überdies
soll das margenträchtige Premium-Seg-
ment imWassergeschäft forciert werden.
Eine weitere Knacknuss stellt China
dar, wo Nestlé in den ersten drei Quarta-
len 2019 nur noch ein flachesWachstum
erzielt hat. Ursache für die Stagnation
sind nebst einem allgemein schwachen
Konsum einzelne Produktkategorien,
wie etwa Säuglingsnahrung undReis-
brei, die bei denKonsumenten offen-
bar nur wenig gefragt sind.Das China-
geschäft war bereits vor einigenJahren
ineineFlautegeratenundzwischen20 15
und 2016 von der einstigenFinanzchefin
Wan Ling Martello saniert und wieder
zumWachsen gebracht worden. Jetzt
zeigt sich, dass dieTrendwende nicht so
nachhaltig war wie erhofft.Auch hier
werden sich Schneider und seine Mann-
schaft etwas einfallen lassen müssen.
Wie von Analytikern erwartet, hat
Nestlé ein neues Aktienrückkaufpro-
gramm angekündigt.Ein noch laufendes
Programm im Umfang von 20 Mrd.Fr.
sollbisEndeJahrabgeschlossenwerden.
Ab 2020 wird man für dreiJahre einen
neuenRückkaufplan wiederum in Höhe
von 20 Mrd.Fr. lancieren;dieser läuft je-
dochunterdemTitel«Barausschüttung»,
da man die Möglichkeit offenhalten will,
die überschüssigen flüssigen Mittel auch
in Form einer Dividende an die Aktio-
näreauszuschütten.ZweckderÜbungist
esauch,denVerschuldungsgraddesKon-
zerns etwas zu erhöhen,um so vom billi-
gen Fremdkapital zu profitieren.

MarkSchneiderdurchforstet dasPortfolio von Nestléund geht leistungsschwacheBereichean. GAËTAN BALLY / KEYSTONE

Russland will Internetriesen an die Kette legen


Die russische Suchmaschine Yandex warnt eindri nglich vor einem Gesetzesentwurf


MAXIM KIREEV,ST. PETERSBURG


Russlands Internetunternehmen warnen
vor gravierendenFolgen eines Geset-
zesentwurfs, über den in der russischen
Staatsduma diskutiert wird. Demnach
soll es ausländischen Investoren unter-
sagt werden, mehr als 20% der Anteile
an «wichtigen Unternehmen» der Bran-
che zu halten. Dies würde das«einzig-
artige Ökosystem des russischen Inter-
netgeschäfts,wo lokale und globale
Playerkonkurrieren, zerstören», warnt
Yandex, der grösste russische Such-
maschinenbetreiber.
Yandex-ChefinJelena Bunina sprach
in einem Interview mit der russischen
Zeitung «RBK» davon, dass wichtige
Mitarbeiter das Unternehmen verlassen
könnten, falls das Gesetz verabschiedet
würde. Einige Schlüsselfiguren bekom-


men einenTeil ihrer Boni inYandex-
Aktienausgezahlt. Diese haben in den
letztenTagen jedoch fast 20% anWert
verloren.

Freiheitim Internet beschränkt


Der Gesetzesvorschlag wurde einge-
bracht von Anton Gorelkin, einem Ab-
geordneten der Kreml-Partei Einiges
Russland, der bisher kaum in Erschei-
nung getreten ist. Die geplanten Be-
schränkungen würden die«technische
Unabhängigkeit und Sicherheit» der
russischen Infrastruktur gewährleisten,
argumentiert er. Damit liegt Gorelkin
im Trend der vergangenenJahre, als die
Staatsduma immer neue Gesetze erliess,
die dieFreiheit im russischen Internet
einschränken. So sind Servicebetreiber
gezwungen, Nutzerdaten undDaten zur

Kommunikation ihrerKunden an die
Behörden herauszugeben und Server
mit Daten russischer Nutzer inRussland
zu stationieren.Verstösse haben bereits
zur Sperrung des Netzwerks Linkedin
und des MessengerdienstesTelegram
geführt.

Branchenkenner vermuten hinter
der Initiative einenVersuch, die grösste
russische Suchmaschine stärker zukon-
trollieren. Erst vor einemJahr tauchten
Gerüchte auf, die staatliche Sberbank
könnte Anteile anYandex erwerben.

Das Unternehmen wehrte sich dagegen
bisher erfolgreich.
Dabei giltYandex – wie alle russi-
schenTechnologiekonzerne – als loyal
geg enüber den Machthabern.Viele Nut-
zer vertrauen bereits jetzt heikleDaten
lieber anderen Unternehmen an.Für
Ärger im Kreml sorgt jedoch, dassYan-
dex von einer niederländischen Mutter-
gesellschaftverwaltetwird,derenAktien
an der Börse gehandelt werden. Arkadi
Wolosch, einer der Gründer des Unter-
nehmens, besitzt neben der russischen
auch die maltesische Staatsbürgerschaft.
Ihm gehören 10% des Kapitals und fast
50% der Stimmrechte. Sollte das Gesetz
durchkommen, müsste sich die Eigentü-
merstruktur verändern. Der Hauptsitz
müsste wohl nachRussland verlegt wer-
den. Andere Internetunternehmen, wie
etwa Mail.ru wären vom Gesetz zwar

ebenfalls betroffen. Ihre Aktienkurse
reagierten jedoch kaum.

Was beabsichtigt Putin?


Es ist unklar,ob Gorelkins Initiative
vollständigenRückhalt im Kreml ge-
ni esst. Russische Medien berichteten
jedoch, der Gesetzesvorschlag sei auf
Wunsch von Wladimir Putins Präsidial-
verwaltung lanciert worden. Dennoch
gibt esWiderspruch auch innerhalb der
Regierung, so hat sich das Ministerium
für digitale Entwicklung undTelekom-
munikation überraschend gegen den
Entwurf ausgesprochen. Man müsste
erst alle Risiken abwägen, heisst es aus
dem Ministerium. «Heute fallen die
Aktien, morgen steigen sie wieder, ich
sehekeine kritische Situation», entgeg-
nete Gorelkin darauf in seinem Blog.

Nestlé in Zahlen
Geldwerte in Mrd. Fr.
Januar bis September 2018 2019 ±%
Umsatz Gruppe 66,4 68,4 2,9
Nord-/Südamerika 21,9 24,0 9,5
Europa/Nahost/Nordafrika 13,7 13,7 –0,6
Asien/Ozeanien/südliches Afrika 15,8 15,9 0,9
NestléWaters 6,1 6,1 –0,5
Übrige Geschäfte 8,9 8,7 –1,8

Die Schlinge des
Kremls zi eht sich zu
Kommentar auf Seite 11
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