Freitag, 18. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3
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Der Brexit-Ball liegt jetzt beim Unterhaus
Vier Gruppen werden darüber entscheiden, ob Boris John sons Deal mit der EU in Grossbritannien angenommen wird
MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON
Die britischenReaktionen auf die Eini-
gung am EU-Gipfel fallen erwartungs-
gemäss disparat aus. Ein Sprecher des
Premierministeramts hob am Donners-
tag hervor, dass der Deal, den Boris
Johnson aus Brüssel nach Hause bringe,
den Zusammenhalt desKönigreichs ge-
währleiste, indem er den umstrittenen
Backstop für Nordirland durch eine
demokratische, auf dieVerhältnisse
auf der irischen Insel zugeschnittene
Lösung ersetze.Auch der irischeAus-
senminister Simon Coveney lobte den
Vertrag als grossen Schritt.
«Schlechter alsMaysDeal»
Der britischeRegierungssprecher war
zuversichtlich, dass das Unterhaus an
seiner Sondersitzung vom Samstag dem
Vertrag zustimmen werde. Der Opti-
mismus wurde allerdings verbreitet,
bevor die Democratic UnionistParty
(DUP) dem Deal eine Abfuhr erteilte.
Die nordirischen Unionisten begrün-
deten ihr «Njet» mit demKompromiss
beim Konsens-Mechanismus (Arti-
kel18 des revidierten Austrittsver-
trags), nach welchem sie mindestens bis
2029 keinVetorecht über die für Nord-
irland geltenden Arrangements betref-
fend Binnenmarkt und Zollterritorium
hätten; stattdessen soll die derzeit sus-
pendierte nordirischeVolksversamm-
lung – falls und wenn sie wieder tagt
- mit einfacher Mehrheit entscheiden.
DieVereinbarungen würden Gewohn-
heit werden, befürchtet diePartei laut
einer Mitteilung.
Die Oppositionsparteien lehnen den
neuen Brexit-Deal erwartungsgemäss
ab. Er sei schlechter als das Abkom-
men, dasTheresa May ausgehandelt
habe, sagteLabour-ChefJeremy Cor-
byn. Ähnlich äusserten sich die Libe-
raldemokraten.Dass derVergleich mit
dem «May-Deal» für die Linkenegativ
ausfällt, liegt an der sogenannten politi-
schen Erklärung, die die Richtung eines
zukünftigen bilateralen Abkommens
vorgibt. Stärker als noch von Mayange-
strebt, willJohnson dieregulatorischen
Freiheiten einesFreihandelsabkommens
nutzen, also von den EU-Regeln abwei-
chen. Corbyn befürchtet ein«Wettren-
nen nach unten», dessen Opfer Lohn-
abhängige, Konsumenten und die Um-
welt wären.
Alles hängt nun von der Abstim-
mung im Unterhaus am Samstag ab –
nicht bloss, ob derVertrag angenommen
wird, sondern auch, obJohnson die EU
um eineFristverlängerung bitten muss.
Das letzten Monat gegen seinenWillen
verabschiedete Benn-Gesetz verpflich-
tet ihn dazu, falls bis Samstagabendkein
Vertrag vorliegt oder wenn das Unter-
haus diesen ablehnt.Johnson weist die
Verpflichtung von sich, hat aber gelobt,
er werde dem Gesetz folgen.
Laut der «FinancialTimes» wollte
der Premierminister noch amFreitag
seine in Brüssel versammelten Amts-
kollegen auffordern, sein allfälliges Ge-
such umFristerstreckung abzulehnen.
Er möchte behauptenkönnen, dass es
nur seinen oderkeinen Deal gebe. Jean-
ClaudeJuncker folgte seinemWunsch
und bekräftigte am Donnerstag in Brüs-
sel, für eineFristverlängerung fehle die
Grundlage. DieÄusserung des EU-
Kommissions-Präsidenten wurde frei-
lich in erster Linie in deklaratorischer
Absicht abgegeben.
Am Donnerstag entschieden die
Unterhausabgeordneten, dass die
Debatte vom Samstag länger dauern
soll als vorgesehen. Die Opposition will
Schlupflöcher im Benn-Gesetz stop-
fen.Was geschieht zum Beispiel, wenn
der Brexit-Deal zwar knapp angenom-
men wird, in derFolge jedoch in einer
Reihe von fälligenVorlagen zu seiner
Überführung in britischesRecht schei-
tert? Die für die entsprechenden Ab-
stimmungen vorgesehene Zeit bis Ende
Oktober ist ohnehin knapp bemessen.
DieRegierung widersetzte sich dem
Vorstoss für eine lange Debatte, unter-
lag abermit287 gegen 285 Stimmen. Es
war die achte Niederlage vonJohnsons
Kabinett in acht Abstimmungen.
Die Zünglein an derWaage
DerAusgang der Unterhausabstim-
mung dürfteamSamstag knapp ausfal-
len. DieRegierungsmehrheit, die seit
2017 sowieso von der Unterstützung
durch dieDUP abhing, ist dramatisch
geschrumpft, nachdem letzten Monat
21 Tories aus derFraktion verstossen
worden und weitereKonservative zu-
rü ckgetreten waren.Aus einer nume-
rischen Überlegenheit von 4 Stimmen
wurde eine Unterlegenheit um 43 Ab-
geordnete. Das Augenmerk wird vor
allem vier Gruppen undFaktionen gel-
ten, die die Abstimmung entscheiden
können.
Die DUP (10 Abgeordnete) hat sich
wieerwähntgegendenDealentschie-
den.Nordirlands Unionisten lehnen es
ab, dass aus Grossbritannien eingeführte
Güter in nordirischen Häfen auf Qua-
litätsstandards und allfälligeTarifdiffe-
renzen mit derRepublik Irlandkontrol-
liert werden und dass sie auf lange Zeit
gegen eineFortsetzung des Arrange-
ments wehrlos sind. Ein Einlenken zu
später Stunde wäre mit einem Gesichts-
verlust verbunden; andererseits las-
tet auf derDUP-Chefin ArleneFoster
ein grosser Druck. Möglicherweise ver-
sprichtJohnson erneut Subventionen
für Belfast.Auch einflussreicheTeile der
nordirischen Klientele, wieBauern und
Kleinunternehmer, die durch ein No-
Deal-Szenario viel zu verlieren hätten,
sitzenFoster im Nacken.
Die «Spartaner», wie die härtes-
ten EU-Gegner unter denTories ge-
nannt werd en, sind einweiterer Un-
sicherheitsfaktor.Sie sind in der euro-
skeptischen EuropeanResearch Group
(ERG) vonJacob Rees-Mogg orga-
nisiert,aber nur eine Minderheit von
ERG-Mitgliedern zählt sich zu ihnen.
Ihre Zahl ist ungewiss; 28Tories lehn-
ten Mays Brexit-Deal AnfangJahr in
allen dreiVersuchen ab. Mehrere der
Hardliner, so der einflussreiche Steve
Baker,wollenJohnson unterstützen,
andere habenPosten in der Exeku-
tive undkönnen nicht mehrrebellieren.
Viele schielen auf dieDUP, andere fol-
gen Meinungsführern wieBaker – und
Johnson. Im Unterschied zumFrühling
können sie dasRoss nicht mehr wech-
seln. Der Premierminister drohte ihnen
mitFraktionsausschluss, sollten sie sich
widersetzen.Johnson wirdsich ausrech-
nen, dass die Gruppe auf eine einstellige
Zahl zusammenschrumpft.
Eine Unbekannte bilden die «La-
bour-Leavers »,Abgeordneteausroten
Wahlkreisen mit hohen Brexit-Mehr-
heiten vor drei Jahren.AnfangJahr
zählte man rund 40Parlamentarier zu
der Gruppe, aber die Zahl wurde nie
Tatsache. Bei der dritten Abstimmung
über Mays Deal Ende Märzrebellier-
ten nur noch 5Labour-Vertreter und
stimmten für denVertrag. Die Gruppe
wünscht sich einen Brexit-Deal, aber
einen weichen mit Anlehnung an EU-
Regeln. Gegen ihre Unterstützung für
Johnsonspricht die hoheFraktionsdiszi-
plin beiLabour und dass siekein Inte-
resse haben, dem Premierminister im
Hinblick auf Neuwahlen einenTr iumph
zuzuspielen. Handkehrum würde sich
ihreRebellion diesmal lohnen– bisher
hatte siewegen der Brexit-Hardliner
imTory-Lager immer als aussichtslos
gegolten.Weniger als 10 Stimmenaus
der Gruppe wären fürJohnson enttäu-
schend, mehr als deren 20 ein Geschenk
des Himmels.
Unklar ist auch, wie die 21 aus der
Fraktion vers tossenenKonservativen
und weitere Tories, dieaus der Partei
ausgetretensind,stimmen.«Sie schul-
denJohnson nichts», sagtTimBale von
der Londoner Queen-Mary-Universität.
Anderseitserhofften sich einige, dass sie
durch WohlverhalteneinenWegzurück
in diePartei finden.Nochmals andere
wie der ehemalige MinisterRory Ste-
wart halten einenKompromiss für nö-
tig und befürchten ein zweitesReferen-
dum, sollteJohnsonscheitern.
HatJohnson dieDUP und einige
Tory-Hardliner gegen sich, muss er die
Gegner durch bis zu40 wankelmütige
Abgeordnete wettmachen, beispiels-
weise durch je 20 «Labour-Leavers»
und ehemaligeTories. Unmöglich ist
dies nicht, schwierig aber allemal.
WeitererBericht Seite 27
Bald könnte die EU-FlaggeumeinenStern ärmerwerden. ALASTAIR GRANT /AP
Einer will raus aus der EU, zwei wollen rein
Am Gipfel in Brüssel herrscht Genugtuung über den Br exit-Deal, doch auch Streit über das Hinhalten vonBalkanstaaten
DANIELSTEINVORTH, BRÜSSEL
Über dieFrage, ob die Europäische
Union je in derLage sein wird,Weltpoli-
tik zu gestalten, gehen die Meinungen
naturgemäss auseinander. Für die desi-
gnierteKommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen ist derWeg dahin mindes-
tens einAuftrag. Und dass«Weltpolitik-
fähigkeit» in Brüssel bald ein geflügel-
tes deutschesWort werden würde (das
nächste nach dem politischkontaminier-
ten Begriff «Spitzenkandidat»),das hatte
schon vor einiger Zeit einJournalist
vom amerikanischen Nachrichtenportal
«Politico»seinen Lesern prognostiziert.
Doch gemessen an der dramatischen
Weltlage gab die EU an ihrem Herbst-
gipfel am Donnerstag ein eher in sich ge-
kehrtes und wenig geeintes Bild ab.
So hatte die erlösende Nachricht über
einen Deal im Brexit-Streit am späten
Vormittag zwar für Hochgefühle unter
EU-Vertretern gesorgt. In seltener Ein-
stimmigkeit wurde der neueAustritts-
vertrag mit Grossbritannien am Abend
von den 27 übrigen Mitgliedstaaten an-
genommen. Doch war der Brexit nicht
der grösste Streitpunkt des Gipfels: In
derFrage über den Start der EU-Bei-
tritts-Verhandlungen mit Nordmaze-
donien und Albanien und jene, wie die
Mitgliedsländer auf die türkische Mili-
täroperation in Nordsyrienreagieren
würden, kündigten sich schon seitTa -
gen Zerwürfnisse innerhalb der Staa-
tengemeinschaft an.
Seilziehen um Beitritte
Den beidenBalkanstaaten hatte die EU
eigentlich eine Beitrittsperspektive ver-
sprochen – imFalle Nordmazedoniens,
wenn dasLand im uralten Namensstreit
mit Griechenland einlenken würde; im
Falle Albaniens,wenn es seinJustiz-
system gründlichreformieren würde.
Bereits beimTr effen der Europaminis-
ter in LuxemburgamDienstag kam es
allerdings zum Streit:Tr otz einem Gut-
achten derKommission,das denBal-
kanländernbescheinigte,die Vorausset-
zungen für Beitrittsgespräche zu erfül-
len, lehnteFrankreich diese kategorisch
ab, und auch die Niederlande undDäne-
mark meldetenVorbehalte an.
«Sehr enttäuscht» gab sich darauf
Deutschland. Mankönne nicht einhal-
ten, was man mehrfach versprochen
habe,klagte der deutsche Europa-
staatsminister MichaelRoth. Es sei zu-
dem kaum hinnehmbar, wenn andere
Mächte wie China oderRussland in die
Lücke stiessen, die eine erweiterungs-
müde EU auf demWestbalkan hinter-
lassen würde.
EU-Parlaments-PräsidentDavid Sas-
soli, der sich zu Beginn des Gipfels mit
den Staats- undRegierungschefs aus-
tauschte, wies auf die brüskierten Be-
völkerungen in den beidenLändern
hin, die keinVerständnis hätten für
einenAufschub.Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron wiederum begrün-
dete seinVeto vor allem damit, dass die
EU für dieAufnahme neuer Mitglie-
der nicht gerüstet sei. Überhauptmüsse
der gesamte Beitrittsprozess neu geord-
net werden.Dass die Osterweiterung
in Europa insgesamt nicht sonderlich
populär ist, weiss Macron.
Während also einLand seinenAus-
tritt aus der EU verhandelt, betteln zwei
vergeblich um Beitritt und bereitet ein
drittes (das offiziell immer noch ein Bei-
trittskandidat ist) den EuropäernKopf-
zerbrechen. So lässt sich am Beispiel
des umstrittenen Krieges derTürkei in
Nordsyrien auch die aussenpolitische
Machtlosigkeit der EU ablesen: Zwar
hatten die EU-Aussenminister den Ein-
marsch der türkischen Armee vergan-
geneWoche einhellig verurteilt, doch
das wares auch schon.Auf gemeinsame
Wirtschaftssanktionen oder ein EU-
weitesVerbot vonWaffenexporten in
dieTürkeikonnten sich die Mitglieds-
staaten nicht einigen, und daran werde
sich, wie ein hochrangiger EU-Vertreter
am DonnerstagJournalisten sagte, wohl
auch am Gipfel nichts ändern.
Kuschen vorder Türkei
Weil Ankara seit demTürkei-Abkom-
men von 20 16 einVertragspartner der
EU ist und dafür gesorgt hat, dass die
Flüchtlingszahlen an der Ostroute zu-
rückgegangen sind, will Brüssel sei-
nen «strategischenPartner» nicht ver-
ärgern.Dabei geht es auch anders:Im
Fall der illegalen Erdgasbohrungen der
Türkei vor derKüste Zyperns haben die
EU-Aussenminister erst kürzlich einem
rechtlichenRahmen für dieVerhängung
von Sanktionen zugestimmt.
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