Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 FEUILLETON 35


Wie sich die prekäre Lage in Katalonien


auf das Kulturleben auswirkt SEITE 37


Wer trendige Wörter nachplappert, will klug wirken,


macht sich aber lächerlich SEITE 38


Amerika, du bist verrückter

Roadmovie statt Ritterromanze: Salman Rushdie wagt ein Revival vonCervantes’ «Don Quichotte»


ANGELA SCHADER


Dem Gaul die Sporen geben und die
Lanze einlegen – das ist vorbei. Im
21.Jahrhundert tritt Don Quichotte
unter anderenVorzeichenan. Cervantes’
Ritter von der traurigen Gestalt mochte
bei seinen Abenteuernregelmässig auf
die Nase fallen, aber für einen Mann
von kargen Mitteln zeigte er doch ein
beträchtlichesVermögen, derWelt sei-
nen Wahn aufzuprägen. Inzwischen
spielt dieWelt ganz von selbst verrückt,
und statt des klapprigen Drauflosstür-
mens übt der heutige Quichotte lieber
denRückzug in denFernsehsessel.
Erschaffen hat ihn SalmanRushdie,
und er tat gut daran, viel Distanz zwi-
schen das Originalwerk und sein eigenes
zu legen; denn solcheRevivals grosser
Klassiker fallen meist zuungunsten der


Nachfolgewerke aus. InRushdies «Qui-
chotte»ist vor allemreichlichRushdie
drin:Das beginnt bei seinerDulcinea,
einer bildschönen indischstämmigen
TV-Moderatorin, die erkokettunter
dem Namen Salma R. antreten lässt,
und es endet beim autobiografischen
Namedropping:WoRushdie sich in der
Zeitakuter Bedrohung durch Khomei-
nysFatwadas PseudonymJoseph Anton
zugelegt hatte, wählt eineRomanfigur
nun das leichter zu entschlüsselndePen-
dant:Conrad Tschechow.
Mit solchen Pirouetten trägt der
Schriftsteller das aus seinen erprobten
Ingredienzienkomponierte Menu auf.
Weder fehlen die zwischen Indien, den
USA und Grossbritannien grosszügig
ausgefaltetenFamiliengeschichten noch


die profiliertenFrauenfiguren noch die
gelegentlichenAusrutscher ins allzu Pla-
kative. Hier verspielt und dort markant
werden Bezüge zur Aktualität gesetzt;
insbesondere gegen diepharmazeuti-
sche Mafia, die die Opioid-Krise über
Amerika gebracht hat und imRoman
auch Salma in die Sucht treibt, zieht
Rushdie mit gerechtem Zornvom Le-
der. Und natürlich sind die Anspielun-
gen auf Hoch- undPopulärkultur dies-
mal besonders dicht gesät, denn die
postmoderne Praxis hat in Cervantes
einen frühenVorläufer.

Statt desWanstes einWunder


Sein Heldenpaar modelliert Rush-
die eigenwillig.Quichotte,ein ältlicher
indisch-amerikanischer Handlungs-
reisender, ist infolge allzu üppigenFern-
sehkonsums mental etwas neben dieSpur
geraten und von seinem Cousin, in des-
sen Dienster stand, inPension geschickt
worden. In Bombay geboren und aufge-
wachsen, trug derTitelheldeinst den zivi-
len Nachnamen Ismael, den er nach der
Übersiedelung in die USA in Smile um-
wandelte; das passt nicht schlecht zu die-
sem mildenMann, derWelten von sei-
nem frühenVorreiter entfernt ist.
Die attraktivere Schöpfung imRo-
man ist Sancho – ohnePanza bitte, denn
vomWanst, den das spanischeWort be-
zeichnet, zeigt Quichottes Begleiter bei
Rushdiekeine Spur. Überhaupt mangelt
es ihm zunächst ganz und gar an Fleisch,
denn er wird aus dem schierenWunsch-
denken des einsamen Quichotte ge-
boren. Die Hervorbringung diesesJun-
gen, der als farblose Schattengestalt er-
scheint und sich dann–mit etwas Ge-
burtshilfe seitens der sprechendenGrille
aus «Pinocchio» – vonseinem Erzeuger
löst und dabeiFarbe und Charakter an-
nimmt, ist die denkwürdigste Heldentat,
dieRushdies Quichotte gelingt.
Im Allgemeinen aber passt sich die
Quest eher dem Profil des Protagonisten

an. Zwar zieht auch er in seinem metal-
lic-grauen Chevy Cruze kreuz und quer
durch dieLande; doch statt der dem Zu-
fall abgetrotzten oder von heimlichen
Drahtziehern inszeniertenAventiuren,
die man von Cervanteskennt, auferlegt
er sich eine metaphorischeReise, die
ihn durch siebenLäuterungsstufen zur
Vereinigung mit der Angebeteten füh-
rensoll.Dasspart ihm Liebesmüh,denn
mündliche Bekundungen, dass man
Glauben, Unglauben und Dogma ab-
gelegt, das«Tal der Liebe» durchschrit-
ten und sich schliesslich auch noch der
Vernunft entledigt habe, sind schnell ab-
geliefert.Wenn dieWorteund das Um-
feld schlecht gewählt sind, können Qui-
chottes harmloseVerlautbarungen aller-
dings katastrophaleFolgen zeitigen.
An solchen Stellen legtRushdie den
Fingerineine weitereSchwäredes heu-
tigen Amerika: denFremdenhass,der
Mitbürgern mit dunkleremTeint ent-
gegenschlägt. Er bricht diese Kritik
punktuell, indem er auch absurde Vol-
tender Political Correctness vorführt;
vor allemaber hat bei der Opioid-Krise
imRoman auch ein gebürtiger Inder


  • nämlich Quichottes Cousin – als
    Pharmafabrikant beide Hände im Spiel,
    und er deklariert seinekorrupten Prak-
    tiken auch gleich noch zur guten indi-
    schenTr adition: «Es ist unsereKultur
    aus dem altenLand.»
    Allerdings muss man für solches Ge-
    schäftsgebaren nicht an indischenBahn-
    undBehördenschaltern das Schmieren
    im Kleinen geübt haben. DieVerant-
    wortlichen der US-Firmen, die heute
    wegen ihrer gewissenlosenVermarktung
    der süchtigmachenden Medikamente
    vor Gericht stehen, haben Mediziner
    bezahlt, damit sie bei Hausärzten und
    in Spitälern für ihre Produkte warben.
    Und sie haben angesichts alarmierender
    Verkaufszahlen gern beideAugen zuge-
    drückt:So wurden 2015 allein in Okla-
    homa 326 Millionen Opioid-Tabletten
    verschrieben, statistisch umgerechnet


sind das 110Tabletten für jeden erwach-
senen Einwohner des Bundesstaats.
Kein Wunder, dass der Ritter von der
traurigen Gestalt solchen äusserstrea-
len Herausforderungen nicht gewachsen
ist – undRushdie erweitert die Bühne,
auf der sein Held antritt, gleich noch ins
Apokalyptische: Ein nach Elon Musk
und anderen visionärenFeuerköpfen
modellierterWissenschafter arbeitet
verzweifelt an der Erschliessung eines
Paralleluniversums, weil sich im unsri-
gen Schwarze Löcher auftun, erst nadel-
stichartig,dann dieWelt gleich hap-
penweise verschlingend. Die angebe-
tete Salma durch dieses Chaos derRet-
tung entgegenzuführen, wird Quichottes
zweite Grosstat sein.

Sorgsam arrangiert


DerAutor muss an vielenRädern dre-
hen,um die Mechanik seiner Erzählung
in Gang zu halten.Daverbietet sich die
stellenweise irritierende Staffelung der
Perspektive, die Cervantes im «Don
Quichotte» versucht:Warum springt
dort der erste Erzähler plötzlich einem
anderenauf denRücken, als dessen
Manuskript dasFolgendeausgegeben
wird – und wer hat dann wirklich das
Wort?Jener Cid Hamete,dessenAuf-
zeichnungenerst einmal aus dem Ara-
bischen übersetzt werden müssen, oder
doch der erste Erzähler?
Rushdie dagegen arrangiert die
Textebenen äusserst sorgsam, indem
er die Geschicke seines Quichotte in
die Hände eines «realen»Autors legt


  • des mässig erfolgreichen Unterhal-
    tungsschriftstellers SamDuChamp, des-
    sen eigenes Schicksal sich imLauf des
    Romans immer enger mit demjenigen
    der Quichotte-Figur verschränkt.Das
    mag stellenweise etwas schulbuchmässig
    wirken, doch der Schluss, auf denRush-
    die dieVerflechtung hinführt, entschä-
    digt dafür: Er ist zauberhaft, melancho-
    lisch und schlicht perfekt.


Statt Rosinante besteigt man den Chevy Cruze–und auchsonst ist Rushdies «Quichotte»Welten entfernt von seinemVorbild. ERNST HAAS /HULTON ARCHIVE /GETTY


Von den


Pflanzen lern en


Alle wollen die Welt retten.
Aber kümmert das die Welt?

ROMAN BUCHELI, FRANKFURT AM MAIN

85 Prozent der Biomasse bestehe aus
Pflanzen, heisst es. Der Mensch hin-
gegen habe daran gerade einmal einen
Anteil von 0,03 Prozent.Irgendetwas
scheinen die Pflanzen also besser zu ma-
chenals der Mensch. Anders kann man
sich dieses krasse Missverhältnis nicht
erklären.Vielleicht sollte der Mensch
darum etwas demütiger werden und von
den Pflanzen lernen.
An derFrankfurter Buchmesse wer-
den, so will es ein weitverbreitetesVor-
urteil, Bücher ausgestellt.Dasist nicht
ganz falsch, und wie an jedemVorur-
teil ist auch an diesem etwas dran. Die-
sesJahr werden sogarsehrviele Bücher
ausgestellt, mehrals je zuvor,möchte es
scheinen. Und trotzdem sind die Bücher
heuer nur die Nebendarsteller. Die
Hauptbühne gehört derWelt und ihren
Rettern.Woman hinschaut und hinhört,
sind die Nothelfer im Einsatz, als würde
gerade die Zeitablaufen.
Carlo Sgarzi ist Umweltwissenschaf-
ter an der Universität Florenz, und er
hat mit seinem Appell, wirkönntenvon
den Pflanzen vielleicht das eine oder an-
dere noch lernen, immerhin die Origina-
lität des Gedankens und denWitz ohne-
hin auf seinerSeite. Das ist schon einmal
viel in einer Branche,wo sonst die Moral
mit gravitätischem Ernst und mit Gra-
besstimme vorgetragen wird.
Sgarzi sass zusammen mit einem
spanischenPolitologen und einerPari-
ser PhilosophinaufeinemPodium, das
sp rachlich etwas verblasen überschrie-
ben war: «Gemeinsam dem Anthropo-
zän gegenüberstehen». Das klang etwa
so, als sollte die vereinte Menschheit
hier sich selbst gegenüberstehen. Der
Mensch gegen dasErdzeitalter des Men-
schen! Man hätte es auch alsAufruf zur
Selbstabschaffung des Menschen ver-
stehenkönnen. Der Mensch bläst zur
Revolution gegen sich selbst.
Die dreiWissenschafter waren sich
jedoch sehr genau des Selbstwider-
spruchs bewusst,in den sie sich bege-
ben hatten – denn gerade der Begriff
Anthropozän ist einSymptom der Krise,
in der dieWelt steckt: Hinter derVor-
stellung, der Mensch sei nun einmal der
bedeutendste Einflussfaktor im Erdge-
schehen, steckt die gleiche Allmachts-
phantasie,die den Schlamassel doch
erst hervorgebracht hat und die uns
nun auch glauben lässt, nur der Mensch
alleinkönnen den Planeten nochretten.
Dawar der Hinweis des Florentiners
auf die Überlegenheit der Pflanzen doch
einWink mit schönemWitz. Sgarzi sagte
ja nicht, wirsollten nun denPflanzen
ähnlich werden (na ja, irgendwie sagte
er das schon).Vielleicht meinte er aber
auch nur, wir sollten es doch erst einmal
eine Nummer kleiner versuchen. Und
vermutlich wollte er auch nur dieWelt
(sprich: die Pflanzen) vor ihrenRettern
retten. Denn was immer der Mensch
tut, eskommt am Ende doch selten was
Gutes dabei heraus.
Doch zurück zu den Büchern! Zu-
mindest einVerlag kam an die Buch-
messe, um dasVorurteil zu widerlegen,
es ginge hier vor allem und ausschliess-
lich um Bücher.Der ZürcherVerlag
Kein & Aber – seit längerem bekannt
für seine originellen Messeauftritte –
hat diesesJahr mitten unter die immer
gleichen kleinen oder protzigen Messe-
stände einenWhite Cube gebaut.Von
weitem leuchtet er strahlend weiss den
Besuchern entgegen. Nur Bücher wird
man hier kaum finden. An derFront-
seite desKubus hängen lauter Buch-
attrappen desVerlags, doch betritt man
denRaum, taucht man gleichsam in
die Bücher ein. Über eine interaktive
Videowand werden animierte Clips zu
einzelnenTiteln eingespielt, die über
alleWände desKubus laufen. Nie war
man so nah bei den Büchern.

LESEZEICHEN


Salman Rushdie: Quichotte
Aus dem Englischenvon Sabine Herting.
C.-Bertelsmann-Verlag, München 20 19.
459 S., Fr. 37.90.
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