Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

36 FEUILLETON Freitag, 18. Oktober 2019


Gesunde Religionskritik relativiert


den Wahrheitsanspruch von Religionen


Muslimische Religiosität schliesst die Anerkennung des säkularen Staates nicht aus


AMIR DZIRI


Staat, Gesellschaft undReligion bilden
keine Sinneinheit mehr. Die Zugehö-
rigkeit des Individuums zum Staatzeigt
sich weitgehend unabhängig von Merk-
malen wie Sprache, Kultur, Religion
oder Ethnie. Dem Staatkommt heute
primär dieAufgabe der Herrschafts-
organisation zu, seinVerhältnis zur Ge-
sellschaft zeichnet sich vor allem durch
die Gewährleistung grundrechtlicher
Schutzgarantien aus.
Die weltanschauliche Neutralität
des Staates bedeutet, dass er gegenüber
Religionen undWeltanschauungen eine
respektvolle, aber klare Distanz be-
wahrt. Damitschafft er allerdings kaum
werthaltige Bindungskräfte, über die
sich eine Gesellschaftkollektiv zusam-
mengehörig fühlt.
Vor dem Hintergrund dieses Argu-
ments hatte der deutscheVerfassungs-
rechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde
vier Möglichkeiten gesehen,umeine
vorrechtliche Begründung der Frei-
heitsordnung zu legitimieren: zivilreli-
giöse, sozioökonomische,biologisch-
naturale oder kulturell-mentale Quel-
len. Er sprach sich bekanntermassen
für eine kulturell-mentale Begründung
aus, als deren wichtigstes Element er das
christlicheFerment betrachtete.


Notwendigkeit der Kritik


Aber unterläuft Böckenförde hier nicht
eine wesentlicheVerwechslung? Die
Kirchenkönnen für sich mit Sicherheit
beanspruchen, einedemokratisch-säku-
lareOrdnung im Nachkriegseuropa sta-
bilisiert zu haben. Ihre ursächliche Be-
gründung ist allerdings gerade einem
Abwehrkampf gegen den Suprematie-
Anspruch vonReligion zu verdanken.
Und überhaupt: Streiten Christen
und Muslime gerade ernsthaft darüber,
wer säkularer ist? Um dem vermeint-
lichen Sieger wiederum grössere Gestal-
tungsmacht in der derzeitigen Gesell-
schaft zuzusprechen? Die ursächliche
Begründung des demokratisch-säkula-
ren Staates kann nicht in gleich welcher
religiösenTr adition gesucht werden. Zu
glauben, dass die Bejahung des säku-
laren Staats einreligiöses Gebot sein
müsse, ob von Christen oder Muslimen
gefordert, wäre das Eingeständnis eines
Machtanspruches vonReligion.
Es ist daher nur bezeichnend, wenn
religiöse Wortführer gleich welcher
Couleur darauf beharren, ein vermeint-
lich vorherrschendes Wertevakuum
mit wiederentdeckterreligiöserTr a -
dition füllen zu wollen. Die Begrün-
dung des säkularen Staates kann nur
durch eine philosophisch anhand von
Menschen- undFreiheitsrechtenvorge-
brachteReligionskritik erfolgen, anders
als seine mögliche Stabilisierung durch
religiöse Interpretation.
Nur die Kritik an Religion kann
zur Einsicht führen, dass dieWahr-
heitsansprüche von Religionenrela-
tivsindund dass siedaherFreiheits-
räume anderer um ihrer eigenenFrei-
heitsräume willenrespektieren müssen.
Eine gesundeReligionskritik bedeutet
aber auch,Religiosität als Lebensweise
anzuerkennen:Religiös-Sein, insbeson-
dere Muslimisch-Sein, istkeinePatho-
logie, die auf zivilisationsmissionarische
Heilung wartet.
DieKonjunktur der Böckenförde-
Rezeption ist an sich ein Alarmsignal.
Sie lenktdenFokusweg von verant-
wortlicherReligionspolitik, hin zu einer
unheilvollen Diskussion über angeblich
vorhandeneoder nichtvorhandene kul-
turelle undreligiöse Dispositionen. Be-
reits mit Blick auf dieKulturkritik der
1970erJahre bemerktJürgen Haber-
mas: «Die Krisenursachen werden nicht
in derFunktionsweise der Ökonomie
und des Staatsapparates gesucht, son-
dern in kulturell bedingten Legitima-
tionsproblemen, überhaupt in dem ge-
störtenVerhältnis von Demokratie und
Kultur, ausgelöst durch dasFehlen einer


durchTr adition undWertekonsens ge-
tragenen, gegen Leistungsschwankun-
gen immunisierten Zustimmungs- und
Folgebereitschaft.»

Zur Mehrsprachigkeitfinden


Wie positionieren sich Muslime zu
diesenFragen? Der einzig sachdien-
liche Hinweis liegt darin, anzumerken,
dass sie womöglich andereVorausset-
zungen im Hinblick auf dieseFragen
haben als andere.Dass Menschen, die
aus unterschiedlichen kulturellenKon-
textenkommen, andereVerständnisse
von Staat, Gesellschaft undReligion
habenkönnen, ist natürlich; das ist be-
reits innereuropäisch derFall.
Liberale und autoritäre Grundein-
stellungen sind allerdings globale Phä-

nomene und daher gerade nicht kultur-
spezifisch.Das zeigt sich unter anderem
daran,dass sichauch innerhalb von Ge-
sellschaften mit muslimischer Mehrheit
eklatante Unterschiede auftun. Die An-
nahme, Muslime seien durch ihrereli-
giöse Zugehörigkeit auf ein bestimmtes
Verständnis von Staat und Gesellschaft
festgelegt, widerspricht allergeschicht-
lichen und aktuellenWirklichkeit.
Unter den tatsächlich bestehenden
Herausforderungen für Muslime selbst
fungiert zuvorderst erstens die Art der
Artikulation von politischen Bedürfnis-
sen, zweitens der Umgang mitreligiö-
ser Normativität. Die erste Herausfor-
derung hängt mit derKontinuitätreli-
giöser Sprache zusammen, die vor allem
im arabischsprachigenRaum vorzufin-
den ist. Diereligiöse Sprache ist vielfach
gleichzeitiges Mittel zurFormulierung
von Gesellschafts- und Herrschaftskri-
tik. In derFolge fehlt es an alternati-
ver Sprache, die es ermöglicht,inande-

rer alsreligiöser Rhetorik zu sprechen,
wenn dezidiert politische Sachverhalte
gemeint sind.
Fürexterne Betrachter erzeugtdies
den Eindruck einer geistigen Geschlos-
senheit, in der alle Bereiche des politi-
schen Gefügesreligiös durchtränkt er-
scheinen. In der politischen Kultur
Europas hat sich dagegen eine philoso-
phische Sprache etabliert,die es erlaubt,
inrelativerAutonomie von christlicher
Sprachsymbolik politische Anliegen zu
formulieren.Für europäische Muslime
ist es daher wichtig, «mehrsprachig» zu
sein und ihre bürgerlichen Bedürfnisse
auch jenseitsreligiös aufgeladener Spra-
che zumAusdruck zu bringen.

NeueMarkierungen


Die zweite Herausforderungreligiöser
Normativität verlangt von Muslimen,
Möglichkeiten der theologischen und
praktischen Interpretation zu finden, die
es erlauben, dass individuelleFreiheits-
bereiche – sei es von Muslimen selbst,
die anders leben wollen, oder von Men-
schen, die nichts mit ihrerReligion zu
tun haben wollen –respektiert werden.
DerWeg dorthin ist offen: Bereits heute
zeichnen sich integrative Islamverständ-
nisseab, die diesen Herausforderungen
schrittweiseRechnung tragen.
Dass es daneben antieuropäische
und islamisch begründeteIdeologien
gibt, die die liberal-säkulare Ordnung
als Gegner ausmachen, istreichlich be-
kannt. Andererseits sind starke Säkula-
risierungsprozesse unter Muslimen be-
legt, die allerdings in der Öffentlichkeit
wenig auffallen, da sie dann nicht mehr
unter der Kategorie Islam wahrgenom-
men werden.
In der Öffentlichkeit wird derzeit viel
über eineWiederkehr derReligionen ge-
rätselt.Dabei bleibt oftmals unbemerkt,
dass es nicht eine etwaige Zunahme
vonFrömmigkeit ist, die sicheinstellt,
sondern einWechsel in der Betrach-
tungsweise.Was vor einigenJahrzehn-
ten unter den Begriffen Chancengleich-
heit, Bildungsgerechtigkeit oder Sozial-
und Arbeitsmarktintegration verhandelt
wurde, wird neu unter identitätspoliti-
schen Markierungen ausgefochten. Sol-
che Markierungen setzen kulturalisti-
sche Essenzialisierung voraus, anders
können sie nicht funktionieren.

Für einen grossenTeil der arbeits-
migrantischen Milieus führte die Ein-
sicht, in Europa eine neue Heimat zu
finden, gleichzeitig zu Prozessen der
sozialen Selbstbehauptung.Dieses Be-
dürfnis drückt sich in den Nachfolge-
generationen manchmal so aus, dass
man sich in der Öffentlichkeit dezi-
diert als islamisch zu erkennen gibt, und
zwar in durchaus überzeichnetem Ges-
tus und Habitus.

Das europäischeVersprechen

Die Provokation und ostentative
Demonstration der Religion in der
Öffentlichkeitist gerade Zweckdieser
sozialen Selbstbehauptung. Er wird von
der Gesellschaft jedoch nicht als solcher
erkannt, sondern als zusätzlicher Be-
weis einer mit aller Macht in die säku-
lare Öffentlichkeit vordringendenreli-
giösen Ideologie wahrgenommen. Die
wechselseitige Missdeutung von Moti-
ven verstärkt kulturalistischeProjektio-
nen des anderen.
Die Diskussion um die spezifischen
Voraussetzungen von Muslimen in libe-
ral-säkularen Gesellschaften erhält ihre
Berechtigung durch dasVorhandensein
unterschiedlicher politischerKulturen
in Herkunftsländern oder in tatsächlich
gesellschaftsrelevantenreligiösen Inter-
pretationen. Gleichzeitig sind dieseVor-
aussetzungen, mit denen Muslime ihre
Umwelt wahrnehmen, selbst Produkt
einer globalen Moderne; Muslime sind
folglichTeil, sowohl im Guten wie auch
im Schlechten, ebendieser Moderne
und nicht ihre notwendige Antithese.
Eine Einschränkung von demo-
kratischenPartizipationsrechten auf-
grund einer pauschal vermutetenreli-
giösen oder kulturellen Unverträglich-
keit wäre das Ende des Prinzips der
Grundrechtsgleichheit und derWieder-
beginn der Ständeordnung. Das euro-
päischeVersprechen vonFreiheit und
Gleichheit bemisst sich zuRecht nicht
anReligionszugehörigkeit, sondern an
der Qualität sozialer Beziehungen so-
wie am Bestreben, Ungleichheit zwi-
schen den Bürgern zureduzieren.

Amir Dziriist Professor für Islamische Studien
und Co-Direktor des Islamzentrumsander
Universität Freiburg.

Muslime sindTeil der Moderne und nicht ihre notwendige Antithese. HENRY NICHOLLS / REUTERS

Liberale und autoritäre
Grundeinstellungen
sind globale
Phänomene
und daher gerade nicht
kulturspezifisch.

Milch? Vade


retro, Satana!


Das ist schwer zu verdauen:
Kuhmilch istinVerruf geraten

DANIELE MUSCIONICO

Man wuchsunterKühen auf,sozusagen.
Wohl auch deshalb wurde indiesem
Land derKonsum von Milch mitreligiö-
sem Eifer gepredigt. Unvergessen sind
die Menschenversuche,die die Schweiz
unternahm, um ihrem Nachwuchs das
Beste aus der Heimat in Fleisch und
Knochen einzubleuen.
Während einer bestimmten Phase
der Primarschulzeit versorgten uns
wohlmeinendeAutoritäten mit Ernäh-
rungsvorschlägen. Es gab Bons. Und
für je einen solchen erhielt man einen
Pausenapfel. Ein oder zweiJahre später
war das StückPapier schon eine soge-
nanntePausenmilch wert. Sie stammte
natürlich von derKuh,schwappte in
einer kleinen Kartonpackung, und
wenn man diese öffnete, schoss der
Strahl mit grosser Zuverlässigkeit dort-
hin, wo man auf ihn hoffte. Der Stroh-
halm dazu war das Lustigste.

Gerüchlein desWiderstands


Nur wenige Schüler widerstanden,
schlugen dasVerführungsangebot aus
und verstauten Apfel und MilchTag um
Tag, Woche umWoche tief in ihrenTor-
nistern. Es war um dieseRanzen stets
ein Gerüchlein, dennkeine bekannte
Seifekonnte es aus dem Leder wie-
der entfernen. Diese Kinder hatten es
schwer. Ihre Eltern beunruhigte natür-
lich derWiderstand des Nachwuchses
gegen die schweizerische Gesundheits-
vorsorge. Und ihre Schulfreundestell-
ten fest, dass die Hungerkünstler zu-
dem fremdländische Namenbesassen.
Kinderkönnen nicht anders, sie müssen
grausam sein. Sie wollen ja werden wie
die Erwachsenen.
Jahrzehnte später ist es wieder wie
damals: Man versteht dieWelt nicht.
Der Glaube an die Milch, dem man sich
imLaufe derJahre – trotzTr änen und
revoltierendem Magen – erfolgreich
anschloss,wird infrage gestellt. Massiv
sogar.Von klugenKöpfen und wohl-
meinenden Ärzten. Sie wissen mit letz-
ter Bestimmtheit, dass diereine Lehre
von derreinenMilcheine Irrlehre sei,
magisches Denken oder, noch enttäu-
schender,politisch gezielt gestreute
Propaganda: Die Milch ist nicht gesund,
lebenserhaltend bisins Innerste meiner
Körperzellen. Die Milch sei das Böse
schlechthin.Vaderetro, Satana!

Ja, ich trinke!


Warnungen sind noch das wenigste.Ver-
achtung schlägt mir entgegen, wenn ich
bekenne, dass ich trotz Zipperlein links
und Zipperleinrechts eine Milchtrin-
kerin bin.Wäreich Alkoholikerin, man
striche mir aufmunternd über denKopf.
«Du schaffst es!», würden meineFreunde
flöten.Ja, ich trinke,aber dasFalsche.
Ob ich mich an eine Selbsthilfegruppe
wendensoll, die anonymer Milchtrinker
vielleicht? Denn die Milch der frommen
Denkart wird mir allmählich sauer.
Was stimmt denn nun? Und was ist
Kinderglaube?Kuhmilch wirdvon alter-
nativmedizinischen Kreisen verant-
wortlich gemacht für denVerfall unse-
res Körpers. Osteoporose,Allergien,
Zahnausfall, Muskelzittern.Kuhmilch
soll Schuld haben an derVerschleimung
der Atmungsorgane, Asthma soll durch
sie ausgelöst werden.Dass selbst der
Klimawandel eine indirekteFolge unse-
res Milchkonsums ist,dieKühe rülpsen
Methan, istkein neuerVorwurf mehr.
Man kann unterschiedliche Dinge
tun, um von denLagern der Milchkri-
tiker und der Milchbefürworter nicht
zerrieben zu werden. Man wechselt das
Morgenritual und tauscht Kuhmilch
gegen Getränke aus, die nach nichts
schmecken, weil sie ausReis, Hafer oder
Sojahergestellt sind. Man kann auch
seineFreunde auswechseln. Oder man
hält der MilchdieTr eue und stellt sich
auf den Standpunkt, dassTiere schon
wissen, was für ihren Nachwuchs gut ist.
Fürdiesen drittenWeggibt es ein schla-
gendes Argument: In der Schweiz wer-
den die Krankenkassenprämien 2020
um lediglich 0,2 Prozent steigen.
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