Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

38 FEUILLETON Freitag, 18. Oktober 2019


Glücklich sein im


eigenen Körper


Man hat es ja nicht leicht mit sich
selbst. Doch naht nunendlich Hilfe

PAUL JANDL

Ich glaube, Flugzeuge sind gute Orte für
BodyPositivity.Wo es viele Menschen
gibt,aberwenig Platz, istentschieden
der imVorteil, der ein bejahendesVer-
hältnis zu seinemKörperhat. ImFlug-
zeug habe ich kürzlich die Beilage zum
Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» ge-
lesen, die demThema BodyPositivity
gewidmet ist.Wenn man die Beilage
ganz aufschlägt, nimmt man dem Sitz-
nachbarn seinen Blick auf dasFach am
Vordersitz, wo die Beauty-Angebote der
Fluggesellschaften stecken.
Auf dem Cover der Beilage sieht
man eine rundlicheFrau,die die nack-
ten Arme hinter demKopf verschränkt
hat. In denAchseln hat sie Blumen. Die
Frau istaber nurgezeichnet.Vielleicht
hatten die Body-Positivity-Models ge-
radekeine Zeit. Oder sie hatten einfach
keine Lust, sich für den «Spiegel» Blu-
men in dieAchseln zu stecken.BodyPo-
sitivity will dafür sorgen, dass wir uns in
unserenKörperformen und -funktionen
so annehmen, wie wir sind. Sogar gegen-
seitig. Ich finde das im Prinzip eine gute
Sache. Es dient demRespekt und dem
Weltfrieden. Aber es gibt einen Markt,
der die Sache auch gut findet.

Die KunstderVerschiedenheit


Frau Donnermuth, ein Ex- Model,
macht jetzt «Loungewear» für diePosi-
tivisten. «Leger, bequem und ohne Atti-
tüde.» Ich meine ja, dass man Ähnliches
auch bisher schon im Strassenbild ge-
sehen hatte. Es hiess nur etwas anders.
EchteRole-Models derKörperpositi-
vität gibt es im «Spiegel» auch. Zum
BeispielMelodie Michelberger, über
die es heisst:«Sie ist an Diätengeschei-
tert, hatte ein Burnout und setzt sich
heute für die Akzeptanz allerKörper-
formen ein.Dabei propagiert die Akti-
vi stin nicht das Dicksein, sondern die
VerschiedenheitdesAussehens.»
Damuss ich allerdings sagen:Auch
ich bin schon seit längerem ein Propa-
gandist derVerschiedenheit desAus-
sehens. Es gibt sogar Leute, die mich
daran erkennen, dass ich anders aussehe
als viele andere. Über die Schauspiele-
rin Annabelle Mandeng heisst es, dass
sie schwere Unfälle hatte undsich zwölf
Operationen unterziehen musste. Der
«Spiegel» in seinem vorgespielten Mit-
gefühl:«Vielleicht ist sie gerade deshalb
so pragmatisch und lebensbejahend.»
Jeder, wie er kann, denn bei «Mana-
gerThomasRaabe» steht:«Verbessert
sich ständig.» Sonst wäre er wohl auch
kein Manager geworden! Dieser nicht
ganz attitüdefreie Mann machtAus-
dauersport, trinkt Ingwertee, verzich-
tetauf Alkohol, Nikotin undKoffein.
Nicht aberaufSlim-fit-Hemden. Irgend-
wie scheinen die MenscheninderWelt
desKörpergefühls doch noch nicht ganz
friedlich vereint zu sein.Für die Prag-
matischeren unter den lebensbejahen-
denKörperpositivisten hat das Nach-
richtenmagazin auch gleich einWerbe-
umfeld zusammengestellt. Sie interes-
sieren sich offenbar vor allem für Sofas.

Endlichder sein,der manist


Wer einenKörper hat, weiss, dass es nicht
leicht ist, mit ihm zu leben.Wenn derKör-
per schwerer wird, wird es noch schwerer.
Zu leicht darf er auch nicht sein. Er darf
nicht zu gross und nicht zu klein sein. Er
muss den Blicken der anderen standhal-
ten. Die neueWohlfühlindustrie nimmt
dieKonsumenten, wie sie sie bekommen
kann, und deshalb bleibt vielleicht ohne-
hin alles beimAlten.
Es gibt in der Beilage auch eine An-
zeige für einTr immrad mit Flachbild-
schirm und On-Demand-Sportkurs. In
Zürich habe ich in einerAuslage Desi-
gner-Tr immräder mitTr openholzappli-
kationen und versilberten Luftspoilern
gesehen. Es wird immer schöner und un-
komplizierter, mit sich so weit zufrieden
und unzufrieden zugleich zu sein, dass
man die Angebote des Marktes gerne
annimmt. Man muss sie geradezu an-
nehmen, damit man endlich sein kann,
wie man ist.

Das üble Nachreden


Rede, damit ich dich sehe, heisst es. Aber was sieht man, wenn jemand von «Learnings» spricht?


FRANK SIEBER


Ich hasse Learnings. Nicht denVorgang,
aus ErfahrungenErkenntnisse abzulei-
ten oder Lehren zu ziehen, sondern den
Ausdruck selbst: «Learnings». Es fällt
schwer,einWort zu finden,dasnoch
überflüssiger,noch aufgeblasener,noch
lächerlicher seinkönnte als dieses – und
dieKonkurrenz schläft ja nun wirklich
nicht.Tr otzdem hält und verbreitet es
sich,seit Jahren schon, zu lange jeden-
falls, um es als vergängliche modische
Verirrung abzutun.Wie aber kann es
sein, dass ein so offensichtlicher Brunz
sich imWortschatz festsetzt und kaum
eineretwas dabei findet?
Hier höre ich die ersten unter Ihnen,
liebe Leserinnen und Leser, schon tief
atmen: Sierechnen mit einer sprachrein-
halterisch motiviertenTirade, vermut-
lich kulturpessimistisch grundiert, weil
esja um ein englisches (zumindest eng-
lisch klingendes)Wort geht, das demfei-
nen Herrn Schreiberling offenbar gegen
den Strich geht.
Also zuerst zum grundsätzlichen
Einwand, mit dem jederrechnen muss,
der sich sprachkritisch in die Brust
wirft: «Sprache brauchtkeinRettungs-
kommando»,schrieb dieKolleginJulia
Kohli im Medienmagazin «Edito» und
riet, doch lieber nach demVorbild der
Sprachwissenschaft den Sprachwandel
zu beschreiben statt in der Art des
päpstlichenRechthabersWortverbote
zu erlassen undRegelverletzungen an-
zuklagen. Mehr als Schreibhemmungen
zu fördern, bewirkedas ohnehin nicht.
Sprachkritiker und Stillehrer tendie-
ren sicher dazu, Sprachwandel vorwie-
gend negativ zu bewerten und manch-
mal auch ausrein persönlichenVorlie-
benRegeln abzuleiten. Aber nur, weil
der eine oder andere einem zu päpstlich
kommt, spricht das nicht grundsätzlich
dagegen, den Sprachgebrauch kritisch
zu beleuchten.
Im Gegenteil:Wenn Sprachkritiker
Widerspruch provozieren, müssteihnen
das eigentlichrecht sein, selbst wenn
sich der gegen eigeneRatschläge rich-
tet. Denn darum sollte es ihnen ja gehen



  • um eine Stärkung des persönlichen
    Sprachbewusstseins, um einen Appell,


nicht einfach alles zu übernehmen, was
gerade kursiert, sondern sich ein eigenes
Urteil vorzubehalten. Dies im Sinne von
Dieter E. Zimmers Erkenntnis: «Der
Verlust der sprachlichen Selbstkontrolle
ergibt schlechtes Deutsch.»

Hört, ich bin versiert!


Der Gebrauch desWorts «Learnings» –
um endlich auch hier zum päpstlichen
Teil überzugehen – bedeutet nicht nur
einenVerlust der Selbstkontrolle, son-
dern auch derWürde. Das gilt übrigens
nicht nur für Deutschsprachige: «Quit
using the word ‹learnings›. It makes you
soundreally stupid.The word youreally
want is ‹lessons›», schrieb der Unterneh-
mensberater Jeffrey McManus schon

vor 15 Ja hren. Deutschsprachige klin-
gen damit vielleicht sogar noch einen
Tick dümmer, weil dasWort als fremd-
sprachiger Import noch geblähter wirkt.
In ihremFall täten «Lehren», «Erkennt-
nisse» oder «Einsichten» den Dienst.
Wieso aberredet einer plötzlich so,
obwohl «Learnings» nichts Neues sagt?
Dummheit kann es nicht sein, jedenfalls
nicht hauptursächlich. Ich habe dasWort
schon aus dem Mund von Leutenkom-
menhören, die ohne Zweifel klüger sind
als ich, und noch irritierender: die auch
nicht als besonders sprachunempfind-
lich aufgefallen wären.Wie bei vielen
anderen Gelegenheiten stellt sich also
auch hier dieFrage, ob man nicht selber
der grössere Esel sei als die, denen man
Eseleien vorwirft? – Nein, diesmal nicht.
Wenn Dummheit nicht infrage
kommt, was dann?Das plausibelste

Motiv für dieVerwendung eines neuen
Worts ohne inhaltlichen Grund ist das
Prestige.
Die Sorge ums Prestige spielt bei
vielen menschlichen Handlungen eine
Rolle, auch bei sprachlichen. So wählt
einer dann «Learnings» statt «Lehren»,
nicht weil es etwas anderes bedeutete,
sondern weil es etwas anderes signali-
siert. Nämlich, dass man auf der Höhe
der Zeit ist, fachlich versiert, hochpro-
fessionell oder ähnlich Imposantes. Das
Risiko,sich stattdessen als gedanken-
losen Nachplapperer von Management-
jargon zu entblössen, wird offenbar als
deutlich geringer eingeschätzt. Zu Un-
recht, wenn Sie mich fragen. Nach mei-
ner Erfahrung benutzen übrigens Män-
ner dasWort deutlich häufiger als
Frauen. Die sind anscheinend weniger
anfällig für so hohleWichtigtuerei.

Nur im Büro verbreitet


Vielleicht aber sind die Zeiten des
Renommierens imFall der «Learnings»
auch schon vorbei, und seineVerwen-
dung ist nur mehr eineFrage der Ge-
wohnheit. Die Attraktion neuerWörter
und die Irritation darüberkönnen ver-
gehen, wenndieseWörter das Modi-
sche verloren haben und gängig gewor-
den sind. Aber die gewohnheitsmässige
Verwendung wäregenauso wenig ein
Tr iumph des kritischenVerstands wie
dasWichtigtun.
Immerhin scheint das Einzugsgebiet
desWorts vorerst mehr oder weniger
aufs berufliche Umfeld beschränkt zu
sein.Das verdanken wir dem Umstand,
dass es dieAuradesFachsprachlichen
trägt, um nichts Gewöhnliches sein zu
müssen.Im Beruflichenaber hat es sich
nach meinem Empfinden in den letz-
ten zwei, dreiJahren mit zunehmender
Penetranz entfaltet.
Allerdings ist man in der Medien-
branche, die aufgrund der Umwälzun-
gen im Zuge der Digitalisierung be-
sondersviel zu learnen hat, möglicher-
weise stärker exponiert als anderswo.
Wirdbeispielsweise ein Maurer je mit
«Learnings» behelligt?Vielleicht höchs-
tens, wenn sein Chef aus einem Manage-
mentkurszurückkommt.Beider Pflege-

rin dürfte dieWahrscheinlichkeit schon
höher liegen, bei der Betriebswirtin so-
wieso, und ganz gewiss ist es demKom-
munikationsberatergeläufig.Er wird
es selberregelmässig im Munde führen
und in Präsentationenschreiben.

Es gibtWichtigeres, aber...


Ausserhalb des Büros istes mir bisher
nur in Gesprächen über die Arbeit be-
gegnet. DieVorstellung jedenfalls, ein
Vaterkönnte seinem im Übermut un-
sanft gebremsten Kind sagen: «Das soll
dir ein Learning sein», ist vorerst – hof-
fentlich – nur eine Phantasie. Die Mut-
terwürde danach vermutlich nicht mehr
wissen, wie es geschehenkonnte, dass sie
sich mitdemfür länger zusammengetan
hat. ImredaktionellenTeil von Zeitun-
gen findet man dasWort ebenfalls sel-
ten, und wenn, dann eherzitierend oder
distanzierend.
Es kann also sein, dass Ihnen das in-
kriminierteWort noch kaum je begeg-
net ist und Ihnen dieseAusfälligkeiten
hier deshalb wehleidig und befremd-
lichvorkommen.Undnatürlich haben
Sie auchrecht mit der rhetorischen
Frage, ob es dennkeine wichtigeren
Probleme gebe. Genauso mit dem Ein-
wand, dass dieseWelt noch ein deut-
lich ungemütlicherer Ort wäre,wenn
jeder immer seine eigenen Empfind-
lichkeiten zum Massstab des Zusam-
menlebens machen würde.
Aber es geht ja hier nicht einfach
darum, anderen dieVerwendung eines
Worts meiner persönlichen schwarzen
Liste vorzuwerfen und sie danach zu
beurteilen. Sondernzubetonen, dass es
einenWert hat, sich nach Kräften um
eine genaue, differenzierte,ungeküns-
telte Sprache zu bemühen. Nicht um sie
zuretten,sondern um seinen Zuhörern
und Leserinnen einen Gefallen zu tun.
Das bedeutet auch, wählerisch
zu sein und nicht alles nachzureden,
was gerade im Schwange ist. Beson-
ders, wenn es sich umreineWichtig-
tuerei handelt. DerAusdruck «Lear-
nings», der in seiner Affektiertheit fast
schon parodistisch anmutet, ist ja nur
einRepräsentant dafür.Aber schon ein
besonders doofer.

WeraufgeblaseneAusdrückebenutzt,will besonders hellerscheinen, blöktaber meist bloss mit der Herde. JORGE SILVA / REUTERS


Die Sorge ums Prestige
spielt bei vielen
menschlichen
Handlungen eine Rolle,
auch bei sprachlichen.
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