Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Schlappe Trumps im Kongress


In der Syrien-Politik wendensichdie Republikaner gegen den Präsidenten


RENZORUF, WASHINGTON


In seltener Einigkeit hat dasRepräsen-
tantenhaus am Mittwoch dieAussen-
politik von Präsident DonaldTr ump
verurteilt. Mit 354 zu 60 Stimmen verab-
schiedete die grosse Kammer desKon-
gresses eine unverbindlicheResolution,
in derTr ump für den abrupten Abzug
der amerikanischenTr uppen aus Nord-
syrien kritisiert wird, weil dieser Schritt
die türkische Invasion möglich gemacht
habe.Auch forderten 225 Demokraten
und 129Republikaner den Präsidenten
dazu auf, dieKurden inSyrien weiterhin
zu unterstützen. DieVorlage geht nun in
den Senat.


«Die haben dortviel Sand»


Tr ump allerdings scheint nicht gewillt
zu sein, nach der zunehmend heftigen
Kritik demokratischer undrepublikani-
scherAussenpolitiker einenKurswech-
sel in Betracht zu ziehen.Während eines
Tr effens mit dem italienischen Staats-
präsidenten Sergio Mattarella am Mitt-
woch sagteTr ump erneut, die Zeit sei
gekommen, dieamerikanischenTr uppen
ausSyrien abzuziehen.Amerika seikein
Weltpolizist und habe deshalb nichts mit
der Situation inSyrien zu tun. Über den


Konflikt zwischenKurden undTürken
im türkisch-syrischen Grenzgebiet und
allfälligeFolgen für das geopolitische
Gleichgewicht sagteTr ump: «Syrien
hat vielleicht Hilfe vonRussland, und
das geht in Ordnung.Es hat viel Sand.
Die haben dort viel Sand.Deshalb ist
dort viel Sand, mit demsie spielenkön-
nen.» Und geradezu nonchalant bestä-
tigteTr ump auch, dass die USA auf dem
Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Süden
derTürkei gegen fünfzig Nuklearwaffen
stationiert hätten.
Später, während einesTr effens mit
führenden Kongressabgeordnetenim
Weissen Haus, spitzteTr ump diese Kri-
tik noch zu. So behauptete er unter
anderem, die Demokraten unterstütz-
ten dieKurden bloss, weil dieseKom-
munisten seien.Auch gab er seinemVor-
gänger die Schuld an der verworrenen
Lage inSyrien. Und er griff nicht nur
Barack Obama an, sondern auch sei-
nen erstenVerteidigungsminister, James
Mattis. Dieser sei der am meisten über-
schätzte General, sagteTr ump, der sich
in seinem ersten Amtsjahr noch oftund
gerne mit Mattis gezeigt hatte.
Der Präsident erklärte, es sei ihm
persönlich zu verdanken, dass dieTer-
roristen des Islamischen Staates inner-
halb eines Monates geschnappt wor-

den seien, und nicht etwa den amerika-
nischen Streitkräften. «Mattis war nicht
hart genug», sagteTr ump gemäss ameri-
kanischen Medien.
Während desTr effens mit führen-
denKongressabgeordneten imWeissen
Haus platzte der Demokratin Nancy
Pelosi schliesslich der Kragen. Die Spea-
kerin desRepräsentantenhauses sagte
dem Präsidenten direkt ins Gesicht:
«Mit Ihnen führen alleWege zu Putin»


  • weilRussland letztlich dasVakuum
    füllen werde, das nach dem Abzug der
    Amerikaner entstanden sei.


Trump attackiert Pelosi


Tr ump zahlte esPelosimit gleicher
Münze heim und nannte die Speakerin
eine «drittklassigePolitikerin». Darauf-
hin verliessen die Demokraten die Sit-
zung und beschuldigtenTr ump, ange-
sichts der heftigen KritikanseinerPoli-
tik einen Zusammenbruch erlitten zu
haben.Trump schlug aufTwitter zurück,
wo er seineWidersacherin als «Nervous
Nancy» titulierte und ihr einenAusras-
ter unterstellte. Er schreckte auch nicht
davor zurück zu schreiben, NancyPelosi
benötige Hilfe, weil sie entweder geis-
teskrank sei oder «unser grossartiges
Land» nicht möge.

Amerikas Regierung lässt nicht nur die Kurden im Stich


Der Abzug der amerikanischenTr uppen aus Syrienerschüttert den ganzenNahen Osten


INGAROGG, JERUSALEM


SiebenJahre nach ihremRückzug ste-
hen erstmals wieder syrische Soldaten
inKobane, der Stadt im Norden von
Syrien, die zumSymbol des Kampfs der
Kurden gegen den Islamischen Staat
gewordenist und in der vor knapp fünf
Jahren die erfolgreicheamerikanisch-
kurdischeKooperation im Krieg gegen
die Jihadisten ihren Anfang nahm.


Trump räumt Moskau das Feld


ImDunkel der Nacht fuhren die Solda-
ten in grünen Bussen und auf Lastwagen
in der Stadt an der türkischen Grenze
ein.Freudenfeuer gab eskeine, was die
Stimmungunter denKurden widerspie-
gelt. Nachdem der türkische Präsident
Recep Erdogan einenKompromiss ab-
gelehnt und ihm der amerikanische Prä-
sident ohne grosse Not grünes Licht für
den Angriff gegeben hatte, blieb diesen


nur dieWahl: entweder ein Arrange-
ment mitDamaskus zu finden oder
einen möglichen Zwei-Fronten-Krieg
zu riskieren.
Die Kämpfe haben bereits Hun-
derte vonToten undVerletzten unter
der Zivilbevölkerung gefordert. Mehr
als 170000 Frauen, Männer und Kin-
der sind auf der Flucht. DieLage sei ex-
trem ernst und werde jedenTag schlim-
mer, erklärte das InternationaleKomi-
tee vomRoten Kreuz am Donnerstag.
Besonders prekär ist dieLage in der
umkämpften StadtRas al-Ain, rund
180Kilometer östlich vonKobane.Die
Kleinstadt befindet sich seitTagen unter
Dauerbeschuss,nach Angaben von Akti-
visten ist sie mittlerweile weitgehend
von syrischen Kämpfern im Sold Anka-
ras umstellt. Die kurdisch dominierten
Behörden forderten am Donnerstag die
Einrichtung eines humanitärenKorri-
dors, umTote undVerwundete bergen
zukönnen.

Viele Beobachter sehenin derRück-
kehr der syrischenTr uppen bereits den
Anfang vom Ende der faktischen kur-
dischen Selbstverwaltung im Nordosten
vonSyrien.Dazu wäredie ausgezehrte
syrische Armee freilich nur mit Unter-
stützung der russischen Luftwaffe in der
Lage, zumal die jetzt verlegten Soldaten
nur leicht bewaffnet sind. IhreAufgabe
ist es vorallem, als Puffer entlang der
Frontlinien zwischen den gegnerischen
Seiten zu dienen. Seit Beginn der so-
genannten Astana-Verhandlungen will
Moskau erreichen, dass Erdogan in
Syrien einenKurswechsel vollzieht und
sich mit MachthaberBasharal-Asad
einigt.Dabei hat Kremlchef Wladimir
Putin jetzt gleich zweiTr ümpfe in der
Hand. DieRussenkönnen sich der türki-
schen Offensive in Nordostsyrien in den
Weg stellen, und siekönnen imWesten
desLandes in der vonAufständischen
kontrollierten Provinz Idlib den Druck
erhöhen. Einen Hinweis darauf liefern

die Angriffe auf Idlib, die in den letzten
Tagen wieder zugenommen haben.

RoterTeppich für Putin


Dass Tr ump faktisch denRussen dasFeld
überlassenhat, hatweit überSyrienhin-
aus Schockwellen ausgelöst.Von Saudi-
arabien bis Israel sieht man in dem über-
hasteten Abzug ein Zeichen dafür, dass
auf die AmerikanerkeinVerlass mehr
ist. Ob sich Israel nochauf dasBündnis
mitWashington verlassenkönne, frag-
ten besorgte israelischeKommentatoren
in den letztenTagen.Trump gebe seine
Verbündeten ohneWimpernzucken auf,
und Israel laufe Gefahr,der nächste zu
sein, schrieb die grössteTageszeitung
des Landes,«Yedioth Ahronoth»,in
einemKommentar.Wie Israel verurteil-
ten die Golfstaaten mitAusnahme des
türkischenVerbündeten Katar die tür-
kische Offensive und stellten sich hin-
ter dieKurden.

Dahinter steckt vor allem dieFurcht
vor Iran. Esist denRussen nicht gelun-
gen, den Einfluss der Iraner inSyrien zu-
rückzudrängen.Auch haben die Iraner
in den letzten Monaten mit den ihnen
zurLast gelegten Angriffen auf Öltan-
ker im Golf und die saudische Ölpro-
duktion ihre Klauen gezeigt. Zähne-
knirschend hat man die Zurückhaltung
in derReaktionWashingtonsregistriert.
Das Land werde wegen des Abzugs
der Amerikanerkeine unmittelbaren
Verteidigungsprobleme haben, sagte
AmosYadlin, der ehemalige Chef des
Militärgeheimdienstes. Es gehe um die
Rolle der Amerikaner als Supermacht
im Nahen Osten. DieseWochekommt
Putin in Riad und Abu Dhabi zu Besuch.
Auch Israel unterhält gute Beziehungen
zum Kreml. AmFreitag wird der ame-
rikanischeAussenminister MikePom-
peo inJerusalem erwartet, um die israe-
lischen Befürchtungen zu zerstreuen.
Das dürfte ihm freilich kaum gelingen.

NancyPelosi, Speakerin desRepräsentantenhauses,kurznacheinem heftigenWortwechsel mitTrump imWeissen Haus.A. BRANDON / AP


Durchbruch


in Ankara


Erdogan und Pence einigen sichauf Feuerpause


VOLKERPABST, ISTANBUL

Die Ereignisse inSyrien haben eine un-
erwarteteWendung genommen. Nach
mehrstündigenVerhandlungen zwischen
dem türkischen PräsidentenRecepTay-
yip Erdogan und dem amerikanischen
VizepräsidentenMikePence haben sich
die beidenParteien mit sofortigerWir-
kungaufeine fünftägigeFeuerpause
in Nordostsyrien geeinigt. DieTür-
kei werde während 120 Stundenkeine
Kampfhandlungen mehr ausführen,um
den kurdischen Selbstverteidigungsein-
heiten (YPG) denRückzug aus dem
Grenzgebiet zu ermöglichen, erklärte
Pence am Donnerstagabend in der ame-
rikanischen Botschaft in Ankara.
Sobald eine Pufferzone von 20 Mei-
len geschaffen worden sei, aus der sich
dieSyrischen Demokratischen Kräfte
(SDF) vollständig zurückgezogen hät-
ten, werde dieTürkei einen dauerhaf-
tenWaffenstillstand erklären. Der tür-
kischeAussenminister Mevlüt Cavuso-
glu bestätigte dasVerhandlungsergebnis
mit einer eigenen Erklärung im Präsi-
dentenpalast.Auf Nachfrage präzisierte
er,dass über diejenigenTeile des Grenz-
gebiets, in die die syrische Armee einge-
rückt sei, mitRussland verhandelt wer-
den müsse. DasAbkommen vom Don-
nerstagdürfte sich deshalb vornehmlich
auf dieRegion zwischen den Städten
Tell Abiad undRas al-Ain beziehen.

Undiplomatischer Brief


Die Einigung kam ausserordentlich
überraschend.Pence und seine Delega-
tion, zu der auchAussenminister Mike
Pompeo und der Berater für nationale
SicherheitRobert O’Brian gehörten,
hätten kaum unter ungünstigerenVor-
bedingungen nach Ankarareisenkön-
nen. Nach der amerikanischen Anklage-
erhebung gegen die staatliche türkische
Halkbank am Dienstag hatten sich die
Fronten nochmals merklich verhärtet.
Erdogan erklärte am Donnerstag er-
neut, dass sich seinLand niemals dem
internationalen Druck beugen werde.
Zudem war amMittwochabend ein
Brief vom 9. Oktober vonTr ump an
Erdogan an die Öffentlichkeit gelangt,
in dem der amerikanische Präsident in
äusserst undiplomatischerWeise seinen
türkischen Amtskollegen von einer Of-
fensive inSyrien abzubringen versuchte.
Erdogan sollekein Idiot sein, sonst
werde er alsTeufel in die Geschichte ein-
gehen. Die meisten Beobachter fürchte-
ten, dass nach der Bekanntgabe des be-
leidigendenBriefes jegliches Entgegen-
kommen ausgeschlossen sei, da dies
dem türkischen Präsidenten als Schwä-

che ausgelegt würde.Tatsächlich liess
dieRegierung durchsickern, dass Erdo-
gan den Brief nach Erhalt weggeworfen
und kurz darauf den Befehl zum Start
der Militäroperation gegeben habe.
Was denAusschlag zumVerhand-
lungserfolg gab, ist unklar. Pence ver-
wies auf die amerikanischen Zusagen,
keine zusätzlichen Sanktionen zuer-
lassen.Tatsächlich drohten der ange-
schlagenen türkischenWirtschaft wei-
tere Strafmassnahmen. Dies werde nun
nicht geschehen,erklärtePence.

Erdogan kann zufrieden sein


Allerdings musste Ankaraauch nicht
von seinem zentralen Ziel abrücken.
DieVertreibungder kurdischen YPG,
die wegen ihrer engenVerbindung zur
verbotenen ArbeiterparteiKurdistans
(PKK) von weiten Kreisen in derTürkei
als Sicherheitsrisiko betrachtet werden,
genoss immer oberste Priorität. Dies
wird auch dasTr effen am Dienstag in
Sotschi zwischen Erdogan und Putin prä-
gen.Vorgespräche dazu fanden am Don-
nerstag ebenfalls in Ankara mit dem rus-
sischenSyrien-Beauftragten statt. Mos-
kau dürfte deshalb über denVerlauf der
amerikanisch-türkischen Gespräche im
Bilde gewesen sein. Erdogan hat bereits
angedeutet, dass er keine Einwände
habe, wenn syrischeRegierungstrup-
pen und MoskauTeile der Sicherheits-
zonekontrollierten, solange die YPG
sich zurückzögen. Russland dürfte eine
Lösung anstreben, in der sich dieTürkei
zu einem Abzug ausSyrienverpflichtet
und im Gegenzug dafür Garantien er-
hält, dassDamaskus gegenVerbündete
der PKK vorgeht. Ob Ankara dazu be-
reit ist, bleibt freilich offen.
PräsidentTr ump gab sich ebenfalls
zufrieden. In gewohnt bombastischer
Manier erklärte er, man habe Millionen
von Leben gerettet. Ob die Eingrenzung
des vom amerikanischen Präsidenten
selbst angerichteten Schadens ausreicht,
um zumindest dieparteiinternen Kriti-
ker seinererratischenSyrien-Politik wie
Senator Lindsey Graham zu beschwich-
tigen, muss sich aber erst noch zeigen.
OffeneFragen bleiben in jedemFall
bestehen, in erster Linie mit Blick auf
die YPG. Pence dürfte nicht ohneVor-
gespräche mit denKurden über deren
Rückzug verhandelt haben.Allerdings
haben die USA jeglichesVertrauen bei
ihren einstigenVerbündeten verspielt.
Viel anzubieten haben sie auch nicht,
die Sicherheitszone sollvon denTürken
kontrolliert werden. Die nächstenTage
werden zeigen, ob die Hauptbetroffenen
den türkisch-amerikanischen Deal denn
auch umsetzen werden.
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