Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 GESELLSCHAFT51


Der Vater schlug zu, wie es ihm passte

Flüchtli nge leiden oft unte r mehrfac her Traumatisierung. Neben dem Krieg entfliehenmanche der Gewalt , die sie


in ihrer Heimat in der Familie, der Schule, im Militär erleben. Der Syrer Abdullah ist einer von ihnen. VON NECLA KELEK


Viel ist dieRede vonTraumatisierun-
gen der Flüchtlinge, die vor allem seit
2015 aus Syrien, dem Irak und Afgha-
nistan nach Deutschland gekommen
sind. Die Gründe liegen in Krieg und
Flucht.Wenig thematisiert wird dabei,
dass manche dieser Migranten schon
vor demAusbruch des Krieges durch
Gewalterfahrungen in ihren patriarchal
gep rägten Gesellschaften traumatisiert
wurden. Die deutsche Soziologin Necla
Kelek hat für ihr soeben erschienenes
Buch «Die unheiligeFamilie–wie die
islamischeTraditionFrauenund Kinder
entrechtet» (Verlag Droemer) mit vie-
len Migranten geredet. Hier erzähltsie
die Geschichte des 28-jährigenSyrers


Abdullah (Name geändert), der 20 16
aus Aleppo nach Deutschland kam. Die
Gespräche mit ihm führte sie in einem
Übergangswohnheim in Berlin.
Abdullahs Schulzeit: «Meine erste
richtige Erinnerung ist meine Einschu-
lung mitsieben. Ich hatte michsehr a uf
die Schule gefreut. MeinVater hatte mir
einen Anzug,ein Heft und einen Blei-
stift gekauft.Ich war aufgeregt und
dachte, nun wirdes gut. MeinVater hatte
meine Mutter verstossen.Sie musste zu
ihrerFamilie zurück unddurfte uns
nicht mehr sehen.Ich habe elf Ge-
schwister.Meine Schwestern kümmer-
ten sich um uns.


Alle Kinder mussten zusehen


MeinVater brachte mich bis vors Schul-
tor.Wir wurden in die Klasse gerufen,
die mit dreissig bis vierzig Kindern über-
füllt war.Die Lehrerin begrüsste uns
und rief unsere Namen auf, dann durften
wir wieder in den Hof. Ich war ausgelas-
sen und spielte mit zweiFreundenFan-
gen. Das sah derRektor und beorderte
uns in sein Zimmer. Er sah uns an, sagte
etwas von Unruhestiftern undrief nach
ein paar älteren Schülern aus der sieb-
ten Klasse. Sie kamen mit Stöcken und
spannten eine Schnur dazwischen zu
einem Bogen. Sie schubsten uns auf
den Schulhof, wo sie schoneinen Bock
aufgestellt hatten. Ich musste meine
Schuhe und Strümpfe ausziehen und
mich bäuchlings auf den Bock legen.
Sie schoben den Bogen über meine
Füsse oberhalb der Knöchel und dreh-
ten ihn,so dass sich dasBlut in meinen
Füssen staute. Dann schlugen sie mir mit
einerRute auf dieFersen. Alle Kinder
mussten bei derFalaka, wie man diese
Bestrafungsmethode nennt, zusehen.
Meine Schwester trug mich nach Hause.
Aus meiner heutigen Sicht war die
Schule dazu da, uns zu demütigen.Für
jede Kleinigkeit wurden wir geschlagen.
Kamen wir zu spät, schlugen die Lehre-
rinnen unsauf die Hände, was imWin-
ter,wenn dieFinger verfroren waren,
besonders weh tat. Es ging nicht darum,
uns etwas beizubringen,sondern uns das


Lernen auszutreiben. Ichkonnte nach
fünf Jahrenwederlesennochschreiben.»
Die Familie:«MeinVater liebte mich,
weil ich gerissener war als meineBrü-
der undTricks kannte, um bei Geschäf-
ten mehrherauszuholen. Doch er hat
uns geschlagen. Als mein Bruder ein-
mal Brot kaufen ging, wollte ihm ein
Junge auf der Strasse das Brotgeld steh-
len. Mein Bruder wehrte sich, die älte-
ren Brüder desJungen kamen und bra-
chen ihm den Arm. Er musste ins Kran-
kenhaus.Aber das war nicht seinKum-
mer. Er sagte: ‹Das verzeiht mirVater
nie.› Als er wieder nach Hause kam, be-
achtete meinVater ihn zuerstnicht.Erst
als er den Arm wiederbewegenkonnte,
rief ihn derVater zu sich und schlug ihn
miteinemStock,weilerihmSchandebe-
reitethatte.Ichfanddasungerecht.Aber
ichliebemeinenVater,weilermeinVater
ist,und würde ihn nie infrage stellen.»
AbdullahsFamilie wohnte in einem
zweistöckigen Haus, das zweiTüren
hatte: die Haupttür für die Männer und
eine kleinere Tür für dieFrauen.Wenn
einer der Brüder Lebensmittel einge-
kauft hatte, klopfte er an dieTür der
Frauen.Dann kam die Älteste herunter
und nahm die Sachen in Empfang. Die
Jungen gingen niemals in denFrauen-
bereich. Die Männer undJungen wohn-
ten im unteren Bereich undkonnten
das Haus verlassen und betreten, ohne
dass sie denFrauen begegneten. Die
Jungen waren draussen auf der Strasse
und kamen erst nach Hause, wenn auch
die Älteren von der Arbeit zurückkehr-
ten.Die Männer bekamen dann von den
Frauen das Essen serviert.
Auch im Haus wichen sich Männer
und Frauen aus. Zu ihrem Schutz seien
Kontakte zwischen den Geschlechtern
vermieden worden,sagtAbdullah. Meist
waren die Männer am Morgen fort, be-
vor dieFrauen am nächsten Morgen
herunterkamen, um aufzuräumen oder
sauber zu machen. «Meine Schwestern
hattenkein eigenes Leben», sagt er.
Sie mussten im Haushalt arbeiten und
gingen nur die obligatorische Zeit zur
Schule. Sie warteten darauf, verheira-
tet zu werden.Das war meist mit drei-

zehn oder vierzehnJahren. Die Arbeit:
Sobald sich Abdullah eine Gelegenheit
bot, brach er die Schule ab. Da war er
zwölf. «Ichkonnte die Grausamkeiten
nicht mehr ertragen.Da ich bei meinen
Cousins in derPolsterei schon während
der Schulzeit alsLaufbursche ausgehol-
fen hatte, wurde das zu meiner Haupt-
arbeit. Ich holteTee, räumte dieWerk-
statt auf, putzte, brachte den Müllraus.
Drei Cousins betrieben diePolsterei,
der Älteste warder Chef, auc hAbi ge-
nannt. Erredete mit denKunden, teilte
die Arbeit ein und kassierte das Geld.
Die beiden anderen nähten und be-
zogen die Möbel und freuten sich, dass
ich nun ständig da war.
Nach etwa einerWoche befahl mir
der Abi, an einem Sessel, der eigent-
lich abholbereit war, ein paarFransen
ab zuschneiden. Er selber war imTee-
haus verabredet. Ich hatte noch nie
eine Schere in der Hand gehabt, wagte
ihm das abernichtzu sagen. Prompt
rutschte die schwere Sche re aus und
stach insPolster – eine Katastrophe. Ich
weinte. DerAbi packte mich am Nacken
und schubste mich insLager. Er nahm
einen Massstab und schlug so lange auf
mich ein, bis ich das Bewusstsein ver-
lor. Die offeneWunde amRücken ver-
heilte schwer, weil niemand sie richtig
versorgte.Als ich hier in Deutschland
einmal zur Untersuchung war, fragte
die Ärztin, ob ich die Narbevom Krieg
hätte. Ich sagte: ‹Ja, Krieg ist schreck-
lich!› Und schämte mich.

Sie wurdenzur Seite getreten


Mein Cousin hat sich nie entschuldigt.
‹Das soll dir eine Lehre sein›, sagte er
nur. Er war noch brutaler als meinVater.
Wenn mich meinVater schlug, rief er
mich nach ein oder zweiTagen zu sich
und streckte mir die Hand hin,damit ich
sie küssenkonnte.»
DasMilitär: «Als ich erfuhr,dass ich
zurArmee muss, war ich neunzehnJahre
alt.Ichfreutemichundhoffte,nunwürde
sichmeinLebenändern.DieseHoffnung
war das Schönste in meinem Leben. Mit
derEinberufungzumMilitärändertesich

mein Ansehen in derFamilie. Plötzlich
gehörte ich zu den echten Männern und
wurde von meinemVater,den Brüdern
und Cousins entsprechend behandelt.
Ich kam mit etwa 2000 anderen
Rekruten in ein Camp.DreiTage lang
passierte nichts. Wir bekamen altes
Brot und mal ein Ei zu essen und war-
teten.Dann plötzlich kam morgens um 5
Uhr der Befehl, im Hof anzutreten.Wir
mussten alle inReihe stillstehen.Dann
kam derKommandant, stellte sich vor
uns hin und schrie: ‹Ihr seid hier, weil
ihr lernen müsst, gegen unseren Feind
Israel zu kämpfen.Nur die Bestenkön-
nen das. Beweist,dass ihr die Kraft habt,
sonst seid ihr hier falsch.›
Es warFebruar, gefühlte null Grad,
und esregnete nassen Schnee. Ich
fror. Der Offizier brüllte: ‹Alle auszie-
hen!› EinFeuerwehrwagen fuhrvor,
ein Löschschlauch wurde ausgerollt.
Wir zogen uns bis auf die Unterhosen
aus und legten unsereKleider auf den

Boden. DerKommandant nahm den
Schlauch und begann denWasserstrahl
auf uns Männerzurichten. Einige,die
vom eiskaltenWasser getroffen wurden,
fielen hin. Sie wurden von Soldaten aus
der Reihe gezerrt und zur Seite getre-
ten. Ich zitterteam ganzenKörper vor
Kälte und Angst.
Ich sah Kameraden sterben. Nicht
durch denFeind, sonderndurch die un-
menschliche Behandlung der eigenen
Offiziere.Wenn jemand umkam,und das
waren einige, schickte man den Eltern
eine Nachricht und als Trost einen
Kanister Schafskäse. Das war alles.
Als ich vom Militär zurückkam, bot
meinVater mir an, mit ihm eineWas-
serpfeife zurauchen.So wurde ich in die
Mä nnergemeinschaftaufgenommen.Ab
dadurfteichmitreden,wenndieMänner
abends im Hof sassen und erzählten.»
Die Heirat: «EinesTages, ich war in-
zwischen 21, bekam ich im Militär von
meinem Abi einen Anruf.Ersagte: ‹Es
gib t gute Nachrichten.Du bist verlobt
worden, und wenn derWehrdienst vor-
bei ist, wird geheiratet.› – ‹Wen denn?›,
fragte ich. Er antwortete: ‹Selma, die
kleine Schwester meinerFrau.›»
Abdullah hatte das 13-jährige Mäd-
chen noch nie gesehen.Die Verbindung
wurde vorbereitet. Abdullahs Mutter –
der Vater hatte sie zurückgeholt – ging
zur Mutter der zukünftigen Braut, die
gleichzeitigihreSchwesterwar.DieTradi-
tion verlangt, dass zuerst die Mütter mit-
einanderreden.Am Anfang forderte die
Familie der Braut ein Brautgeld von um-
ge rechnet rund5000 Franken. Geeinigt
haben sie sich dann auf die Hälfte, für die
Aussteuer der Braut.Es gabkeine grosse
Hochzeitsfeier, sondern nur ein gemein-
sames Essen derFamilien.Abdullah war
ganz zufrieden mit seiner Braut.
Die Flucht: Abdullah floh 2012 nach
dem Beginn des Bürgerkriegs inSyrien
mit seinerFrau und ihrerFamilie in die
Türkei und arbeitetedort alsPolsterer
in einem Möbelladen. 2016 machte er
sich allein mit der Hilfe eines Schleppers
über Griechenland auf denWeg nach
Deutschland.Die 4000Euro «Reisekos-
ten» zahlte er vonseinen Ersparnissen.

«Eines Tages bekam


ich von meinem Abi


einen Anruf: Er sagte:


‹Es gibt gute Nach­


richten. Du bist verlobt


worden.› – ‹Mit wem


denn?›, fragte ich.»


Frauen und Kinder haben in patriarchal geprägten GesellschaftenimVe rgleichzuden MännernwenigRechte: Ein Bub verkauftinAleppoJoghurt. MAHMOUD HEBBO / REUTERS

«Ich mu sste Sch uhe


und Strümpfe ausziehen


und mich bäuchlings


auf den Bock legen.


Dann schlugen sie mir


mit ei ner Rute


auf die Fersen.»

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