Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK


so heisst es, funktionierten ähnlich wie
das menschliche Nervensystem. «Es ist
einfach zu erkennen, dass Neuronen-
funktionen durchTelegrafenrelais oder
durchVakuumröhren imitiert werden
können.»Von Neumann bezieht sich
dabei auf das MacCulloch-Pitts-Mo-
dell. Der MedizinerWarren MacCul-
loch und der LogikerWalter Pitts hatten
in einem berühmtenAufsatz1943 ge-
zeigt, wie ein neuronales Netzwerk be-
schaffen sein muss, um sichals Rechen-
maschine zu bewähren.Der «first draft»
wurde im Sommer1945 zunächst nur
wenigen amerikanischenWissenschaf-
tern zugänglich gemacht, doch er ver-
breitete sichrasch.
Von Neumann beschäftigte sich noch
in den letztenTagen seines Lebens
intensiv mit den Beziehungen zwi-
schen Computerarc hitektur und Ner-
vensystem.Davon zeugt das postum
erschienene Buch«The Computer and
the Brain» (1958).Er stellt Berech-
nungen an, um zu zeigen, dass das Ge-
hirn den Computern in Sachen Inte-
grationsdichte oder Energiedissipation
weit überlegen sei; er weist darauf hin,
dass die Nachrichtenübertragung inner-
halb des Nervensystems auf einer sta-
tischenAuswertung von Impulsen be-
ruhe. Das Buch endet mit der Erkennt-
nis: «Die Sprache des Gehirns ist nicht
die Sprache der Mathematik.» Compu-
ter und Gehirn sindverschieden, aber
beide sind «Automaten».Anstatt von
Computern schreibt von Neumann etwa
auch von «künstlichenAutomaten», das
Gehirnist ihm dagegen ein «natürlicher
Automat».Worauf es von Neumann
letztlich abgesehen hat, ist nicht eine
Vermehrung von neurophysiologischen
oder computertechnischenKenntnis-
sen, sondern die Schaffung einer über-
geordnetenAutomatentheorie.
Von Neumann ist mit diesem Bestre-
ben nicht allein. Er weiss einige der be-
deutendstenWissenschafter seiner Zeit
an seiner Seite: NorbertWiener bei-
spielsweise oder Claude Shannon. Es
ist ein interdisziplinäres Projekt, das
nicht nur Mathematiker und Informati-
ker, sondern auch Sozialwissenschafter,
Ethnologen und Psychologen begeistert.
Es scheint,als könne eine mathematisch
solide abgestützte Kommunikations-
theorie zwischen denWissenschaftsdis-
ziplinen Brücken bauen.
Und dann hat eine kleine Gruppe
von jungen Mathematikern dieFahne
gestohlen, um sich selber zurAvant-
garde einer neuenWissenschaft zu er-
klären. Die wissenschaftliche Beschäf-
tigung mit der menschlichen Intelli-
genz wurde aus dem Bezugsrahmen von
Mathematik, Psychologie, Biologie und
Elektrotechnik herausgelöst, die Be-
ziehungen, welche die «Epochenglei-
chung» schafft, wurden zerstört.Was
als Kybernetik oderAutomatentheo-
rie ein breit abgestütztes, interdiszipli-
näresForschungsprogramm war, wird
nun zu einemTeilbereich der Compu-
terwissenschaft; eine internationale Be-
wegung wird zu einem Projekt einiger
weniger amerikanischer Universitäten;
eine Wissenschaft, die einst Hardware
ebenso wie auch Software und theo-
retische ebenso wie auch angewandte
Aspekte umfasste, wird nun auf Soft-
wareentwicklung zurückgestutzt.
Die treibenden Kräfte der neuen
Bewegung waren die damals noch nicht
30-jährigen Mathematiker John McCar-
thy und Marvin Minsky.Was sieeinte,
war weniger ein Programm als ein Anti-
programm: nicht Kybernetik, keine
Regelkreise weg vonWiener. Die Rede-
weise von «Elektronengehirn» gefiel den
jungen Mathematikern nicht, in ihren
Kreisen war dasWort Gehirn verpönt,
sie redeten lieber von «mind» – Geist.
Diese«Vergeistigung» ist auffällig. Für
den amerikanischenWissenssoziologen
Paul Edwardsreflektiert der Ersatz der
Computer-Gehirn-Analogie durch die
Computer-Mind-Entsprechung einen
politisch-kulturellenWandel.Vor dem
Hintergrund des Kalten Krieges und
der amerikanischenPolitik des «contain-
ment» deutet er die Hinwendung zum
Geist alsRückzug in einReduit.

Zurückin den Bunker


Aufstieg und Fall der von McCar-
thy und Minsky begründeten symboli-
schen künstlichen Intelligenz (KI) fal-
len zusammen mit dem Anfang und
dem Ende des Kalten Krieges.Als der
Mathematiker und MIT-Professor Sey-

mourPapert 1988 denVersucht unter-
nahm, die Gründe für den sich abzeich-
nendenParadigmenwechsel in einem
wissenschaftlichenAufsatz zu benen-
nen, hielt er sich nicht lange mit tech-
nischen Erörterungen auf, sondern be-
mühte «soziologische Erklärungen»:
Nicht der Zuwachs anRechenleistung
hätten dieRenaissance der neuronalen
Netzwerke ermöglicht, sondern «kul-
turelle Strömungen», die eine Abkehr
vom «scharfkantigen»Rationalismus
der 1960er Jahre herbeigeführt hätten.
Es war der Kalte Krieg gewesen,
der diesen «scharfkantigen»Rationa-
lismus geformt hatte. Nachdem Ende
der 1940er Jahrebekanntgeworden war,
dass die Sowjets über Atomwaffen ver-
fügten, sahen sich amerikanische Mili-
tärstrategen mit derFrage konfrontiert,
wie die USA auf einen überraschend
erfolgenden russischen Atomangriff
schnell und angemessenreagierenkönn-
ten,auch dann,wenn wichtige Entschei-
dungsträger nicht mehr handlungsfähig
wären. Zunächst ging es um eine Be-
schleunigung der Informationsübertra-
gung, bald schien auch eineAutomati-
sierung der Entscheidungsprozesse un-
umgänglich. KI-Systemesollten nach
einem atomaren Überraschungsangriff
das Kommando übernehmen.
Die symbolische KI ist als wissen-
schaftlichesForschungsprogramm be-
deutungslosgeworden.Aber die Grund-
annahmen dieses Paradigmas prägen
ausserhalb derFachwelt bis heute das
Nachdenken über KI: Man stellt sich KI
vor als Softwareprogramm,dasAlgorith-
men für die Bearbeitung von logischen
Symbolen zurVerfügung stellt. So ist die
symbolische KI noch immer allgegen-
wärtig. Und auch der Kalte Krieg ist wie-
der zurück.Es häufen sich jüngst Diskus-
sionsbeiträge, die die wissenschaftliche
Erforschung der KI mit demWettbe-
werb zwischen den politischen Blöcken
in einen Zusammenhang bringen.
«KI ist Militärtechnik», schrieb der
deu tschstämmige, in den USA erfolg-
reiche Computerunternehmer Peter
Thiel imAugust in einem Gastbeitrag für
di e«New York Times». Wegen der mili-
tärischen Bedeutung der KI sei es «scho-
ckierend», dass Google in diesem Be-
reich die Zusammenarbeit mit demPen-
tagon beendet und gleichzeitig ein KI-
Forschungslabor in China eröffnet habe.
Der ehemalige Google-CEO Eric
Schmidt hat zusammen mit demPolito-
logen Henry Kissinger und dem Compu-
terwissenschafterDaniel Huttenlocher
ebenfalls über die geopolitische Bedeu-
tung der KI nachgedacht.IhrAufsatz er-
schien imAugust in der amerikanischen
Monatszeitung«The Atlantic». In einer
Passage, die die Handschrift Kissingers
trägt, wird über einWettrüsten mit KI-
Waffen nachgedacht. DiesesWettrüsten
sei gefährlich,da h erkömmlicheFor-
men derRüstungskontrolle, in den Zei-
ten des Kalten Kriegsentwickelt, nicht
mehr funktionierten. DerFortschrittin
der KI sei schnell und «undurchsich-
tig», das heisst: nicht voraussehbar, für
Aussenstehende nicht nachvollziehbar.
Diese «Undurchsichtigkeit» gefährde
den Frieden.Mit anderenWorten:Nicht
so sehr dieFähigkeiten der KI sind be-
drohlich, sonderndie Unfähigkeit der
Menschen,sich von denFähigkeiten der
KI ein Bild zu machen.

Es häufen sich jüngst


Diskussionsbeiträge,


die die wissenschaftliche


Erforschung der KI


mit dem Wettbewerb


zwischen den Blöcken


in einen Zusammenhang


bringen.


Als imFebruar 1946 der Electronic NumericalIntegrator and Computer (Eniac)vorgestellt wurde,griffen die meistenJournalisten zumBegriff«Gehirn»,umdie Neuerung zu benennen. PD

Die Grundannahme,dass künstliche Intelligenz (KI) ein Softwareprogramm ist, sei Algorithmen zurVerfügung stelle,prägt ausserhalbder Fachwelt das Nachdenken über KI. RITCHIE B. TONGO / EPA

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