Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
BER-Baustelle:
Digitale Vergaben
sollen öffentliche
Projekte
effizienter machen.

Votum


Jobst-Hubertus Bauer
ist Rechtsanwalt bei
Gleiss Lutz in Stuttgart.

Schwer


enttäuscht


Z


u den vornehmsten Auf-
gaben eines Gesetzge-
bers gehört es, vertretba-
re Lösungen zu finden und
auch für Rechtssicherheit zu
sorgen. Leider ist für das Ar-
beitsrecht insoweit weitgehend
Fehlanzeige zu vermelden. Ein
gutes, besser gesagt schlechtes
Beispiel ist dafür das Befris-
tungsrecht. Hat mit demselben
Arbeitgeber „bereits zuvor“ ein
Arbeitsverhältnis bestanden, ist
eine sachgrundlose Befristung
gesetzlich unzulässig. Das Bun-
desarbeitsgericht (Az. 7 AZR
716/09) ging dabei mit guten
Gründen davon aus, dass ein
früheres Arbeitsverhältnis mit
demselben Arbeitgeber aber
dann nicht entgegensteht,
wenn es mehr als drei Jahre zu-
rückliegt. Das war eine verläss-
liche, gut handhabbare Grenze,
die die beschäftigungspolitische
Fehlsteuerung abgemildert hat.
Leider hat das Bundesverfas-
sungsgericht (Az. 1 BvL 7/14)
dieser pragmatischen Lösung
unter Verweis auf die Zielset-
zung der Norm, Kettenbefris-
tungen zu verhindern und die
unbefristete Dauerbeschäfti-
gung als Regelfall zu schützen,
die Grundlage entzogen. Aller-
dings soll das zeitlich unbe-
grenzte Verbot unzumutbar
sein, wenn eine Vorbeschäfti-
gung sehr lange zurückliegt,
ganz anders geartet oder von
sehr kurzer Dauer war.
Das Bundesarbeitsgericht
(z. B. Az. 7 AZR 323/17) ist in-
zwischen dieser Argumentati-
on gefolgt und hat sich von der
Drei-Jahres-Grenze gezwunge-
nermaßen verabschiedet. Vie-
les spricht dafür, dass nunmehr
von der Annahme eines sehr
lange zurückliegenden Zeit-
raums erst bei mehr als 20 Jah-
ren gesprochen werden kann.
Völlig offen ist hingegen vor al-
lem, wann von einer „ganz an-
ders gearteten“ Vorbeschäfti-
gung ausgegangen werden
kann. Rechtssicherheit besteht
also nach wie vor nicht. Die Ar-
beitgeber, die auf die frühere
Rechtsprechung vertraut ha-
ben, können einem leidtun. Ihr
Vertrauen ist nicht zum ersten
Mal schwer enttäuscht worden.
Warum hat sie der Gesetzgeber
im Regen stehen lassen? Er hät-
te längst die Drei-Jahres-Grenze
gesetzlich verankern können.
Rechtssicherheit scheint für
ihn ein Fremdwort zu sein.

An dieser Stelle kommentieren
Rechtsexperten jeden Dienstag
wichtige Justiztrends.

Gleiss Lutz


Steuerthema der Woche


Vorsteuer bei Umzugskosten


W


erden Mitarbeiter auf-
grund konzerninterner
Funktionsverlagerungen
aus dem Ausland ins Inland versetzt
und beauftragt das zum Vorsteuerab-
zug berechtigte Unternehmen Makler
für die Wohnungssuche, ist es zum
Vorsteuerabzug berechtigt.
Im Streitfall wurden bei einer neu
gegründeten Konzerngesellschaft
durch konzerninterne Funktionsverla-
gerungen im Ausland tätige Mitarbei-
ter an den inländischen Standort der
neuen Gesellschaft versetzt. Dabei
sollten diese durch die Umzugskosten-

übernahme bei der Wohnungssuche
unterstützt werden. Das Unterneh-
men zahlte für Arbeitnehmer, die von
anderen Standorten zu ihm wechsel-
ten und umzogen, Maklerprovisio-
nen. Das Finanzamt ging davon aus,
dass die Kostenübernahme arbeitsver-
traglich vereinbart gewesen sei, unter-
stellte einen tauschähnlichen Umsatz
und erhöhte die Umsatzsteuer.
Dem widersprach der Bundesfi-
nanzhof (Az. V R 18/18). Im Verhältnis
zu den Arbeitnehmern liege kein
tauschähnlicher Umsatz vor, da durch
die Unterstützung im Rahmen des

Umzugs erst die Voraussetzungen da-
für geschaffen wurden, dass Arbeits-
leistungen erbracht werden konnten.
Auch haben die übernommenen Um-
zugskosten die Höhe des Gehalts nicht
beeinflusst. Zudem bestand ein vor-
rangiges betriebliches Interesse der
Konzerngesellschaft, erfahrene Mitar-
beiter des Konzerns unabhängig von
deren bisherigem Arbeits- und Wohn-
ort an ihren Unternehmensstandort
zu holen. Demzufolge ist der Vorsteu-
erabzug aus den Umzugskosten mög-
lich. Eine zu besteuernde Zuwendung
an die Arbeitnehmer lag nicht vor.

Heike Anger Berlin


M


ehr als 460 Milliar-
den Euro stecken
Bund, Länder und
Kommunen pro
Jahr in öffentliche
Aufträge. Das entspricht rund 15
Prozent des Bruttoinlandsprodukts –
entfaltet also eine große wirtschaftli-
che Bedeutung und eine enorme
Marktmacht. Damit sich bei der Be-
schaffung von Bau-, Dienst- und Lie-
ferleistungen keine Vetternwirt-
schaft entwickelt, gelten die stren-
gen Regeln und Vorschriften des
Vergaberechts. Mit den jüngsten Re-
formen sollte die Digitalisierung des
Vergabewesens vorangebracht wer-
den, denn viele Ausschreibungen
wurden noch immer überwiegend
mit Papier abgewickelt.

Zu kompliziert für Bieter
Doch hier gibt es noch immer Luft
nach oben, wie eine aktuelle Mitglie-
derumfrage des Deutschen Vergabe-
netzwerks (DVNW) zeigt, die dem
Handelsblatt exklusiv vorliegt. Dem-
nach geben 69 Prozent der befragten
öffentlichen Auftraggeber an, die
rechtlichen Vorgaben für die soge-
nannte e-Vergabe bereits vollständig
umgesetzt zu haben. Bei 23 Prozent
der Befragten ist das nicht der Fall.
Bei der e-Vergabe werden Ausschrei-
bung und Angebote elektronisch
über eine Internetplattform des Be-
schaffungsamtes des Bundesinnen-
ministeriums abgewickelt. Ein eben-
falls mögliches digitales Vergabema-
nagementsystem nutzt nur die Hälfte
der Befragten. 30 Prozent setzen kein
solches System ein.
Die Ergebnisse der Studie sollen an
diesem Donnerstag beim Deutschen
Vergabetag präsentiert werden. Der
jährliche Kongress zur öffentlichen
Vergabe und Beschaffung wird vom
DVNW organisiert. In dem Netzwerk
haben sich Vertreter von Verwaltung,
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und
Justiz zusammengeschlossen.
„Bei der Digitalisierung des Verga-
bewesens gibt es weiter Nachholbe-
darf “, sagte DVNW-Geschäftsführer
Marco Junk dem Handelsblatt. Die
Prozesse könnten noch deutlich ef-
fektiver und effizienter gestaltet wer-
den. „Damit ließe sich sehr viel Geld
sparen“, mahnte Junk.

Mit der Reform des Vergaberechts
wurden das Gesetz gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen (GWB) und
die Vergabeverordnung (VgV) ange-
passt sowie eine Unterschwellenver-
gabeordnung (UVgO) eingeführt.
Laut Umfrage werten 52 Prozent der
Befragten die Neuerungen als positiv
oder eher positiv. 29 Prozent sehen
das nicht oder eher nicht so. Öffentli-
che Auftraggeber müssen bei der Be-
schaffung – etwa von Büromöbeln
oder Software oder der Errichtung
von neuen Dienstgebäuden – beach-
ten, ob die Vergabe ober- oder unter-
halb von bestimmten EU-Schwellen-
werten erfolgt. Je nachdem, sind öf-
fentliche Ausschreibungen im
nationalen Vergaberecht oder EU-
weite Verfahren die Folge.
Die Reform sollte auch die Teilnah-
me von kleinen und mittleren Unter-
nehmen an Vergabeverfahren er-
leichtern. In der DVNW-Studie kriti-
sieren die öffentlichen Auftraggeber
nun, dass die Privatwirtschaft über
zu wenig Kenntnis des Vergaberechts

verfüge, um erfolgreich den Weg
zum öffentlichen Auftrag zu finden.
Dieser Meinung sind 85 Prozent der
Befragten. Mit den Teilnahmen und
eingereichten Angeboten auf die Ver-
gaben zeigen sich nur rund 42 Pro-
zent der Auftraggeber zufrieden. 90
Prozent glauben, dass das Vergabe-
recht für die Bieter zu kompliziert ist.
69 Prozent geben allerdings zu, dass
die Vorgaben für sie als Auftraggeber
auch zu kompliziert sind.
Und noch ein Ergebnis der Studie
lässt aufhorchen: Nur 45 Prozent der
Befragten berichten, mit anderen
Auftraggebern über Verwaltungs-
grenzen hinweg gemeinsame strate-
gische Beschaffungen durchzufüh-
ren. „Forschung und Politik argu-
mentieren seit Langem, die teils
erheblichen Einsparpotenziale durch
größere Auftragsvolumina sowie eine
Minimierung der Verwaltungskosten
zu heben“, erklärt DVNW-Geschäfts-
führer Junk. „Insofern bleibt ganz of-
fensichtlich noch einiges Potenzial
ungenutzt.“

Vergaberecht


Noch nicht digitalisiert


Umfrage: Im elektronischen Beschaffungswesen ist noch Luft nach oben.


Eva Kunze ist
verantwortliche
Redakteurin
für Steuerrecht.
http://www.der-betrieb.de

Damit ließe


sich


sehr viel


Geld sparen.
Marco Junk
Deutsches
Vergabenetzwerk

NurPhoto/Getty Images


DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203 Recht & Steuern^13


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