Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

Matthias Oldiges


„Die neuen Vorschriften schießen


weit über das Ziel hinaus“


Matthias Oldiges ist Rechtsanwalt bei der
auf Umsatzsteuerrecht spezialisierten Kanz-
lei KMLZ. Er berät Mittelständler und inter-
nationale Konzerne, unter anderem Online-
marktplätze.

Der deutsche Fiskus nimmt Onlinemarkt-
plätze wie Amazon oder Ebay seit 2019 in
Haftung, wenn Händler ihren umsatzsteu-
erlichen Pflichten nicht nachkommen. Wa-
rum hat die EU-Kommission nun ein Ver-
tragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland eingeleitet?
Laut EU-Kommission verstoßen die Neure-
gelungen gegen Unionsrecht. Das Problem:
Der deutsche Staat verpflichtet
die Betreiber von elektroni-
schen Marktplätzen zur Vorlage
einer sogenannten Erfassungs-
bescheinigung des Onlinehänd-
lers. Diese wird dem Online-
händler auf Antrag von dem für
ihn zuständigen deutschen Fi-
nanzamt in Papierform erteilt.
Diese Verpflichtung ist nach
Auffassung der Kommission in-
effizient und unverhältnismä-
ßig. Nach Auffassung der Kom-
mission behindert diese Verpflichtung den
Zugang von EU-Onlinehändlern zum deut-
schen Markt.

Auf den Plattformen waren aber viele Tau-
send Händler unterwegs, die keine Umsatz-
steuer abgeführt haben.
Das ist richtig, vor allem Händler aus dem
asiatischen Raum haben sich oft nicht an
die Regeln gehalten. Im Sinne eines fairen
Wettbewerbs musste der Gesetzgeber rea-
gieren, doch die neuen Vorschriften schie-
ßen weit über das Ziel hinaus. Die Verpflich-
tung trifft alle Händler, die auf Amazon,
Ebay oder anderen Plattformen anbieten,
also auch solche aus Deutschland oder dem
EU-Ausland, die ihren umsatzsteuerlichen
Pflichten bereits nachkommen.

Ist es nicht besser, alle zu verpflichten, als
weiter dem Umsatzsteuerbetrug zuzu-
schauen?
Es wären andere Lösungen denkbar gewe-
sen. Der Gesetzgeber hätte etwa die Ver-
pflichtung auf Händler aus Drittländern be-
schränken können. Damit hätte man sicher-
gestellt, dass etwa Händler aus China sich
nicht mehr den umsatzsteuerlichen Pflich-
ten entziehen können. Außerdem wäre es
möglich gewesen, das Verfahren einfacher
zu gestalten. Im Idealfall wären Marktplatz-
betreiber nur verpflichtet, Bescheinigungen
für diejenigen Onlinehändler zu beziehen,
die vermutlich nicht konform sind. In die-
sem Fall könnte die Anzahl der zu erteilen-
den und zu validierenden Bescheinigungen
drastisch reduziert werden und sich gleich-
zeitig auf Onlinehändler konzentrieren, bei
denen der Verdacht besteht, dass sie ihren
umsatzsteuerlichen Pflichten nicht nach-

kommen. Zudem würden eine elektroni-
sche Bescheinigung und eine elektronische
Abfragemöglichkeit für die Marktplätze das
Verfahren deutlich erleichtern.

Wo liegt das Problem?
Zum einen ist es die schiere Zahl der Händ-
ler. In Deutschland gibt es mehrere Zehn-
tausend Anbieter, die auf den Plattformen
ihre Produkte anbieten. Von allen Händlern


  • egal, in welchem Land sie sitzen – müssen
    die Plattformen nun Erfassungsbescheini-
    gungen vorlegen, um nicht selbst in Haftung
    genommen zu werden. Die Erfassungsbe-
    scheinigung wird derzeit noch in Papier-
    form ausgestellt. Sowohl für die
    Händler, Marktplatzbetreiber
    als auch für die Finanzverwal-
    tung ist das ein enormer Auf-
    wand.


Hat denn die EU eine Lösung
anzubieten?
Ja. Die Mitgliedstaaten haben
sich bereits auf gemeinsame
und effizientere Maßnahmen
zur Bekämpfung von Mehrwert-
steuerbetrug geeinigt, die am 1.
Januar 2021 in Kraft treten. Wenn ein inner-
gemeinschaftlicher Verkauf von Gegenstän-
den stattfindet, der Lieferant selbst seinen
Sitz nicht in der EU hat und die Abnehmer
keine Steuerpflichtigen sind, wird der Markt-
platzbetreiber zum Steuerschuldner für die
Lieferung an den Abnehmer. Gleiches gilt für
Sachverhalte, in denen die gelieferten Ge-
genstände unmittelbar aus dem Drittlands-
gebiet eingeführt werden und der Waren-
wert höchstens 150 Euro beträgt. Aufgrund
der hohen Steuerausfälle wollte die Bundes-
regierung nicht bis zum Jahr 2021 warten,
sondern die bestehende Lücke vorher durch
einen nationalen Sonderweg schließen. Die
EU-Kommission stellt diesen nationalen Son-
derweg nun auf den Prüfstand.

Wie geht es nun mit dem Vertragsverlet-
zungsverfahren weiter?
Die Kommission fordert Deutschland auf,
binnen zwei Monaten Abhilfe zu schaffen,
also die Neuregelungen zulasten von EU-On-
linehändlern zu widerrufen. Möglicherwei-
se ließe sich der Anwendungsbereich ledig-
lich auf Onlinehändler aus Drittländern be-
schränken.

Und wenn Deutschland nicht reagiert?
Kommt Deutschland der Aufforderung zur
Abhilfe nicht nach, kann die Kommission
den deutschen Behörden in dieser Sache ei-
ne mit Gründen versehene Stellungnahme
übermitteln. Stellt Deutschland daraufhin
immer noch keine Übereinstimmung mit
dem Unionsrecht her, kann die Kommission
beschließen, dass der EuGH in dieser Sache
urteilt.

Die Fragen stellte Volker Votsmeier.


Der Umsatzsteuerexperte ist nicht überrascht, dass die EU-Kommission die
neuen Haftungsregeln für Onlinemärkte wie Amazon oder Ebay angreift.

ten Abhilfe, kann die Kommission den deutschen
Behörden in dieser Sache eine mit Gründen verse-
hene Stellungnahme übermitteln, die zweite Stufe
in einem insgesamt maximal dreistufigen Vertrags-
verletzungsverfahren.“ Am Ende droht Deutsch-
land ein gerichtliches Verfahren vor dem Europäi-
schen Gerichtshof.
Das Bundesfinanzministerium gibt sich trotz der
drohenden Sanktionen gelassen: „Die Regelung zur
Haftung von Betreibern elektronischer Marktplätze
ist ein zentrales Instrument, um den Umsatzsteuer-
betrug beim Handel mit Waren im Internet wirk-
sam zu bekämpfen. Die Bundesregierung wird da-
her im Dialog mit der Kommission die Regelung
verteidigen und darlegen, dass diese wirksame
Maßnahme zur Vermeidung von Umsatzsteueraus-
fällen mit dem EU-Recht vereinbar ist“, sagte eine
Sprecherin des Bundesfinanzministeriums.

Der Handel fordert einfache Lösung
Der Handelsverband Deutschland (HDE) stellte sich
dagegen an die Seite der EU-Kommission. Kern-
punkt der Kritik der EU-Kommission sei, dass die
Steuerbescheinigungen auf Papier vorgelegt werden
müssen. Damit treffe die EU den Nerv vieler Online-
unternehmen, die sich bereits in den vergangenen
Monaten über genau den Punkt beschwert hatten.
„Die Kritik der EU ist insofern nachvollziehbar“,
sagte Stephan Tromp, stellvertretender Hauptge-
schäftsführer des Handelsverbands. „Im Zeitalter
der Digitalisierung sollte es eine elektronische Regis-
trierung und Nachweismöglichkeit geben.“
Der HDE fordert, dass der Bund eine zentrale
Datenbank schafft, auf die alle Behörden und Platt-
formen zugreifen können, um zu ermitteln, ob ein
Händler oder Absender eines Pakets eine gültige
Umsatzsteueridentifikationsnummer hat, wenn er
Waren in die EU verkauft.
„Man könnte dann die Pflicht einführen, dass je-
de Warensendung außen auf dem Paket diese Um-
satzsteueridentifikationsnummer trägt“, schlägt
Tromp vor. Dann könne der Zoll die Pakete auto-
matisch kontrollieren und die Pakete mit ungülti-
ger Nummer, oder wenn der Versender Steuer-
schulden hat, automatisch aussortieren. „Die
Marktüberwachung“, so Tromp, „könnte sich an
das System andocken und bei auffälligen Firmen
Proben ziehen.“

Warten auf das digitale Register
In eine ähnliche Richtung zielt der Marktplatzbe-
treiber Amazon, der als Marktführer besonders
massiv von der neuen Gesetzgebung betroffen ist.
Ein Sprecher betont, dass das Unternehmen inten-
siv mit den deutschen Steuerbehörden zusammen-
arbeitet, mahnt aber an: „Besonders für die vielen
Kleinunternehmer ohne Umsatzsteuerpflicht sollte
der bürokratische Aufwand so gering wie möglich
gehalten werden.“ Auch deshalb müsse es das von
der Regierung in Aussicht gestellte elektronische
Register so rasch wie möglich geben. „Wir erwar-
ten, dass die Ankündigung einer digitalen Lösung
für die Umsatzsteuerregistrierung in 2020 vom
Bundesfinanzministerium eingehalten wird“, be-
tonte der Amazon-Sprecher.
In der Tat hatte die Bundesregierung im Oktober
2018 in einer Gegenäußerung zur Stellungnahme
des Bundesrats zum Gesetzentwurf geschrieben,
dass die Arbeiten „zur schnellstmöglichen Umset-
zung einer elektronischen Abfragemöglichkeit für
Betreiber von elektronischen Marktplätzen“ aufge-
nommen seien. Eine Implementierung ein Jahr
nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes werde ange-
strebt.
Ein halbes Jahr später hörte sich das allerdings
ganz anders an. Auf eine kleine Anfrage der FDP-
Fraktion antwortete die Bundesregierung im April:
Es werde mit „höchster Priorität“ an einer digitalen
Lösung gearbeitet. Doch eine verlässliche Aussage
zur Fertigstellung sei zum Stand der Arbeiten nicht
möglich. Seitdem, so heißt es in Branchenkreisen,
herrsche auch auf Nachfrage auf allen Ebenen Stil-
le. Es seien nicht mal Ausschreibungen für den Auf-
bau einer Datenbank zu sehen.

Die Ver -


pflichtung


ist nach Auf -


fassung der


Kommission


ineffizient


und unver -


hältnismäßig


und behindert


den Zugang


europäischer


Unternehmen


zum deut -


schen Markt.


EU-Kommission
Pressemitteilung

Oldiges


Unternehmen & Märkte


DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203^17


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