Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

Altersvorsorge


Ungeliebte neue


Betriebsrente


Die Gewerkschaften sehen das


Sozialpartnermodell kritisch. Nun soll immerhin


ein erster Vertrag kommen.


A. Rezmer, F. Specht,
G. Waschinski Berlin, Frankfurt

D


ie IG Metall hat sich die
Entscheidung nicht
leicht gemacht. Beim
Gewerkschaftstag in
Nürnberg gab es eine
kontroverse Debatte über das Thema
Betriebsrente. Zusätzlich gab es
Streit unter den Bezirken und etliche
Änderungsanträge. IG-Metall-Chef
Jörg Hofmann selbst schaltete sich in
die Beratung ein. Am Ende sahen die
Delegierten davon ab, das sogenann-
te Sozialpartnermodell endgültig zu
beerdigen. Doch das Hintertürchen,
das sie offen ließen, ist klein.
Die Große Koalition wollte mit
dem Sozialpartnermodell eigentlich
mehr Beschäftigten die Möglichkeit
geben, mit einer Betriebsrente zu-
sätzlich für das Alter vorzusor-
gen. Das Anfang 2018 in Kraft getrete-
ne Betriebsrentenstärkungsgesetz er-
möglicht Arbeitgebern und
Gewerkschaften, per Tarifvertrag
Pensionsfonds oder andere Alters-
vorsorgeeinrichtungen zu gründen.
Die entscheidende Änderung ist da-
bei, dass die Firmen nur noch eine
bestimmte Beitragszahlung zusagen.
Sie müssen keine Garantie mehr für
die Höhe der Rente übernehmen.
Knapp zwei Jahre später wird im-
mer deutlicher: Der Plan läuft mehr
als schleppend an. Gerade mal in ei-
nen einzigen Haustarifvertrag soll das
Sozialpartnermodell bisher umge-
setzt werden. Der Versicherer Talanx
aus Hannover und die Gewerkschaft
Verdi wollen zum 1. Januar 2020 eine
Vereinbarung schließen. Die neue
Betriebsrente stünde dann 12 000 Be-
schäftigten offen. Der deutsche Able-
ger des Versicherers Zurich Group
hat offenbar ebenfalls Interesse.
Auch wenn Verdi betont, dass die
Tarifverhandlungen erst beginnen,
sieht das Bundesarbeitsministerium
ein Hoffnungszeichen. „Aktuell fin-
den in vielen Tarifbereichen Diskus-
sionen und Gespräche über den tarif-
lichen Ausbau der Betriebsrente in-
klusive Sozialpartnermodell statt“,
heißt es dort. Der tarifliche Rahmen
könne aber nicht von heute auf mor-
gen geschaffen werden. „Die Beteilig-
ten brauchen Zeit für fundierte Ent-
scheidungen.“ Im Frühjahr hatte Ar-
beitsminister Hubertus Heil (SPD)
eine Expertenrunde eingerichtet, um
Arbeitgeber und Gewerkschaften bei
der Umsetzung der garantiefreien
Zielrente zu unterstützen, die unter
seiner Vorgängerin Andrea Nahles
(SPD) beschlossen wurde.
Die Gewerkschaften sehen kri-
tisch, dass Arbeitgeber keine Min-
desthöhe der Betriebsrente mehr ga-
rantieren müssen. Bei der IG Metall
stand ein Antrag zur Abstimmung, in
dem es hieß, die garantierte Mindest-
leistung und die Arbeitgeberhaftung
„bilden für uns unverzichtbar die
Grundlage für den möglichen Aus-
bau tariflicher Regelungen“. Das
Wort „unverzichtbar“ wurde nach
langer Debatte wieder gestrichen.
Der Vorsitzende der Arbeitsgemein-
schaft für betriebliche Altersversor-
gung (aba), Georg Thurnes, deutet
das so, dass die IG Metall „die Tür
zum Sozialpartnermodell nicht zuge-
schlagen“ habe – auch wenn viele in
der Gewerkschaft das anders sehen.
Die Diskussion zeige aber: „Betriebs-
renten ohne Garantien sind kein
Selbstläufer.“

Aktien statt Anleihen
Auch Verdi begegnete dem Sozial-
partnermodell auf seinem Bundes-
kongress reserviert, selbst wenn nun
mit Talanx über ein Pilotprojekt ge-

redet wird. Beschäftigte hätten be-
reits jetzt Möglichkeiten, über Ge-
haltsumwandlung Altersvorsorgepro-
dukte weitgehend ohne Garantie zu
wählen, sagte Verdi-Chef Frank Wer-
neke dem Handelsblatt. „Wir stellen
hier eine große Zurückhaltung fest,
weil die Vorstellung vom sicheren
Sparen in den Köpfen absolut vor-
herrscht.“
Rückstellungen und Haftungsrisi-
ken schrecken aber gerade kleine
und mittelgroße Firmen ab, eine
betriebliche Altersversorgung anzu-
bieten. Das Sozialpartnermodell
sollte ihnen diese Sorgen nehmen.
Für Arbeitnehmer hat der Garantie-
verzicht ebenfalls Vorteile: Die Ver-
sorgungswerke sind freier in ihrer
Anlageentscheidung und können
stärker in Aktien investieren, statt
im Niedrigzinsumfeld das Geld ge-
gen Minirenditen in Staatsanleihen
zu stecken. Vor allem bei langen
Anlagezeiträumen dürften Beschäf-
tigte damit deutlich mehr herausho-
len als bei einer Garantierente. Die
Vorteile des Modells seien in der
Fachwelt „unbestritten“, betont das
Arbeitsministerium.

Doch die finanzwissenschaftliche
Theorie zeigt bei den Arbeitnehmern
keine Wirkung. „Wir müssen die Vor-
teile des Zielrentenkonzepts wesent-
lich besser kommunizieren – ange-
fangen bei Arbeitgebern und Gewerk-
schaften und natürlich auch bei den
einzelnen Mitarbeitern“, sagt Carsten
Hölscher, Betriebsrentenexperte
beim Makler- und Beratungsunter-
nehmen Aon. Eine zu Jahresbeginn
veröffentlichte Aon-Erhebung lässt
den Schluss zu, dass ein Großteil der
Beschäftigten Betriebsrenten ohne
Garantien ablehnt. Nur etwa zwölf
Prozent der Befragten würden für
höhere Zahlungen ein gewisses Risi-
ko im Alter in Kauf nehmen.
Heinke Conrads, die bei der Unter-
nehmensberatung Willis Towers
Watson den Bereich Altersvorsorge
verantwortet, sieht gleich mehrere
Hürden. Denn abgesehen von der
Skepsis auch aufseiten vieler Ge-
werkschaftsvertreter, sei das Modell
durchaus komplex in der prakti-
schen Umsetzung. Auch gebe es in
vielen Branchen bereits gut funktio-
nierende Systeme der betrieblichen
Vorsorge.
Dennoch zeigt sich die Beraterin
verhalten optimistisch, dass das neue
Modell doch Anwendung findet.
Denn im Niedrigzinsumfeld sollte ih-
rer Ansicht nach jede Möglichkeit,
das künftige Rentenkapital für Arbeit-
nehmer renditeorientierter anzule-
gen, zumindest geprüft werden.

Andrea Nahles: Unter der
Ex-Arbeitsministerin wurde
das komplexe Sozialpartner-
modell beschlossen.

Goetz Schleser/laif


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PROZENT
der von der Unternehmens-
beratung AON befragten
Arbeitnehmer würden für eine
Chance auf eine höhere
Betriebsrente größere Risiken
im Alter in Kauf nehmen.
Quelle: AON

Finanzen & Börsen


(^32) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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