Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
Regula Rytz: Die Chefin der
Schweizer Grünen pocht auf eine
Regierungsbeteiligung.

dpa


Regula Rytz


Gewinnerin des


„grünen Tsunami“


ZÜRICH Die ersten Er-
gebnisse zur Wahl in
der Schweiz lagen ge-
rade erst vor, und
schon machte Regula
Rytz klar, wie sie zu
werten sind: „Der
Bundesrat, wie er heu-
te zusammengesetzt
ist, passt nicht mehr
zu den Mehrheiten im
Parlament“, sagte die
Chefin der Schweizer
Grünen. Anders ge-
sagt: Rytz will mitre-
gieren. Aus den Parla-
mentswahlen gingen
die Grünen als viert-
stärkste Kraft hervor.
Eidgenössische Me-
dien sprechen gar von
einem „grünen Tsuna-
mi“, und der könnte
die Politik des Landes
tatsächlich nachhaltig
verändern. Der Ha-
ken: Die Regierung in
Bern wird gemäß ei-
ner jahrzehntealten


Praxis von den glei-
chen vier Parteien be-
stimmt. Nun erheben
erstmals die Grünen
Anspruch auf einen
der sieben Bundesrats-
sitze – auch wenn die
Grünen-Chefin die
Forderung diploma-
tisch formuliert. „Man
soll Stärke nicht mit
Lautstärke verwech-
seln“, lautet die Devise
der 57-Jährigen.
Rytz war einst Lehre-
rin, bevor sie eine
Führungsfunktion in
der Berner Verwal-
tung bekleidete. Vor
drei Jahren kürten die
Grünen sie zur Partei-
chefin. Nun könnte sie
als erste Grüne in die
Regierung einziehen –
doch dort müsste
wohl zunächst ein
Platz frei werden. Und
Abwahlen sind in der
Schweiz verpönt. mic

Michael Verfürden Hannover


M


anfred Grieger beginnt sei-
nen Arbeitstag mit einem
Knall. Als er die Aktenord-
ner auf den Tisch fallen
lässt, schrecken im Neben-
raum die Köpfe hoch. Der 59-Jährige nimmt
die strengen Blicke nicht wahr, seine Auf-
merksamkeit gilt den Dokumenten. Grieger
hält eines gegen‘s Licht, fährt dann mit dem
Finger über eine Prägung, die das Schreiben
ziert – ein Reichsadler mit Hakenkreuz.
Grieger sucht im niedersächsischen Lan-
desarchiv in Hannover nach Namen, Daten
oder Logos, die auf einen Zusammenhang
mit seinem Auftraggeber deuten könnten:
den Kekshersteller Bahlsen. Der Historiker
soll die NS-Geschichte des Unternehmens
aufarbeiten. Firmenerbin Verena Bahlsen
hatte in einem Interview gesagt, dass Bahlsen
seine Zwangsarbeiter „gut behandelt“ habe,
und damit eine hitzige Debatte über die Rolle
der Firma unterm Hakenkreuz ausgelöst.
Dass Bahlsen den als kritisch bekannten Grie-
ger beauftragt hat, gilt unter Historikern als
Signal: Wer Grieger holt, so sagen es seine
Kollegen, müsse dringend ein Zeichen für un-
bedingten Aufklärungswillen setzen.
Auch beinahe 80 Jahre nach Ende der Na-
ziherrschaft birgt die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit des eigenen Unterneh-
mens oder der eigenen Familie viele Fallen.
So wie für den Unternehmensberater Roland
Berger. Der hatte seinen Vater lange als Geg-
ner und Opfer der Nazis dargestellt. Handels-
blatt-Recherchen zeigten jüngst, dass Berger
Senior aber ein hoher Nazifunktionär war.
Nun sollen zwei Historiker die Rolle von Ro-
land Bergers Vater aufarbeiten – so wie es
Grieger seit Juli bei Bahlsen versucht.
Die Äußerungen der damals 26-jährigen
Verena Bahlsen, so Grieger, seien zwar „be-
denklich unbedacht“. Im Gegensatz zu Unter-
nehmensberater Berger sei sie aber nie mit
einer falschen Wahrheit hausieren gegangen.
Der 81-jährige Roland Berger hingegen er-
zählt seit fast zwei Dekaden, dass sein Vater
ein Naziopfer gewesen sei. „Da wird schon ei-
ne gewisse Leidenschaft dafür erkennbar, die
Vaterfigur aus einer Nichtkenntnis heraus zu
gestalten“, sagt Grieger.
Beide Fälle eint eine für Deutschland typi-
sche Frage, deren Beantwortung den Histori-
ker besonders reizt: Wie kommen Familien-
erzählungen zustande, die nicht der histori-
schen Wahrheit entsprechen?

Lästige Pflichtaufgabe
Bei Bahlsen hat Grieger vier Jahre Zeit. Das
Budget will er nicht nennen. Der Historiker
hat ein Team zusammengestellt, das ihn bei-
spielsweise aus Kiew und Amsterdam unter-
stützt. Kürzlich hat er einen Hinweis darauf
gefunden, dass Bahlsen sich um die kommis-
sarische Betreuung einer niederländischen
Backfabrik beworben haben könnte. In den
Ordnern, die vor ihm liegen, vermutet er die
entsprechenden Belege.
Im Landesarchiv ist inzwischen Mittags-
zeit. Hobbyhistoriker treten an die Spinde im
Pausenraum, packen Käsestullen aus. Grieger
öffnet gerade den dritten Ordner, versucht,
Unterschriften zu entziffern, und vergleicht
Listen: Wer ist wann der SS beigetreten, wes-
sen Einkommen hat zu Kriegszeiten einen
Sprung nach oben gemacht?

Dass Vergangenheitsbewältigung ein
schwieriges Thema in Deutschland ist, hat
Grieger bei VW erlebt. Dort fiel er nach 18
Jahren als Chefhistoriker in Ungnade, weil er
die Aufarbeitung der NS-Geschichte bei der
Konzerntochter Audi kritisierte – ohne sich
mit dem Vorstand abzustimmen. Kurz darauf
musste Grieger das Unternehmen verlassen.
Von Bahlsen hat er sich zusichern lassen,
dass er selbst entscheiden kann, wann, was
und wie er veröffentlicht. „Er soll alles aufde-
cken, auch die dunklen Seiten“, hat Auftrag-
geber Werner M. Bahlsen gesagt.
Im letzten Ordner findet Grieger an diesem
Tag endlich das, wonach er gesucht hat: ei-
nen Brief des ersten Gestapo-Chefs Rudolf
Diels. Im Juni 1940, zwei Wochen nach der
Kapitulation der Niederlande, schrieb Diels
an den General Wolfgang Muff: „In der Anla-
ge übersende ich Ihnen, Herr General, einen
Brief der Firma Bahlsen, in dem sie sich um
die kommissarische Betreuung niederländi-
scher Backwarenindustrien bewirbt.“ Muff
solle den Reichsstatthalter darauf hinweisen,
dass für diese Betreuung nur die Firma Bahl-
sen infrage komme. „So würden Sie diesem
Zweig der hannoverschen Industrie eine gro-
ße Forderung erweisen.“
Grieger lehnt sich mit dem Brief in den
Händen zurück. Die Worte des Gestapo-Chefs
seien ein Hinweis, aber kein Beleg für eine
Firmenübernahme. Nächste Woche will Grie-
ger der Spur aus den Niederlanden weiter
nachgehen. Die entsprechenden Akten hat er
schon beim Pförtner bestellt.

Manfred Grieger


Recht und Ordner


Der Historiker erforscht die Rolle der Bahlsen-Dynastie zur Nazizeit.


Zum Fall Roland Berger hat er eine klare Meinung.


Manfred Grieger:
Arbeitet die
NS-Geschichte
von Bahlsen auf.

Heidrich


Da wird schon


eine gewisse


Leidenschaft


dafür erkennbar,


die Vaterfigur


aus einer


Nichtkenntnis


heraus zu


gestalten.


Historiker Manfred Grieger
über Unternehmensberater
Roland Berger

Matthieu Pigasse


Abgang eines


Strippenziehers


PARIS Der Bankier
Matthieu Pigasse
scheidet zum Jahres-
ende als Chef des fran-
zösischen Ablegers
der Investmentbank
Lazard aus, die auf Fu-
sionen und Akquisitio-
nen spezialisiert ist.
Derweil ist unklar, ob
der 51-jährige Franzo-
se freiwillig geht oder
gedrängt wird, wie es
einige französische
Medien schreiben. Da-
nach verlor Pigasse zu-
nehmend an Einfluss
an den weltweiten Vi-
ze Peter Orszag.
Pigasse begründet sein
Ausscheiden damit,
dass er „ein privates
Projekt“ verfolgen
wolle. Nähere Details


teilte er dazu aller-
dings nicht mit.
In Frankreich hatte Pi-
gasse zuletzt von sich
reden gemacht, weil
er dem auch in
Deutschland aktiven
tschechischen Unter-
nehmer Daniel Kretin-
sky (u. a. Metro) Antei-
le an der französi-
schen Mediengruppe
Le Monde verkauft hat
und gleichzeitig ver-
suchte, die Hand auf
die spanische Beteili-
gung an Le Monde zu
legen. Der Verdacht
kam auf, dass Pigasse
als Hintermann von
Kretinsky wirke, der
im französischen
Energiesektor Fuß fas-
sen will. th

Namen


des Tages


(^46) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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