Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

F


ast zehn Jahre ist die deutsche Wirt-
schaft ununterbrochen gewachsen.
Nach der Wirtschafts- und Finanz -
krise 2008 und 2009 gab es für unse-
re Wirtschaft nur eine Richtung: nach
oben. Seit dem zweiten Quartal dieses Jahres hat
sich das geändert. Unsere Wirtschaftsleistung
stagniert oder ist sogar rückläufig. Wie stark die-
ser Abschwung sein wird und wie lange er an-
dauert, ist noch nicht absehbar. Klar ist aber
schon heute, die Unternehmen in Deutschland
können Wachstumsimpulse gut gebrauchen. Ein
solcher, der noch dazu nichts kostet, ist der Ab-
bau unnötiger Bürokratie. Hierauf sollte die Bun-
desregierung konsequent setzen.
Der Nationale Normenkontrollrat übergibt
heute Bundeskanzlerin Angela Merkel seinen Jah-
resbericht. Dort wird bilanziert, dass der jährli-
che Erfüllungsaufwand für die deutsche Wirt-
schaft seit 2011 um knapp fünf Milliarden Euro
gestiegen ist. Umso wichtiger ist, dass das von
der Bundesregierung vor Kurzem verabschiedete
Bürokratieentlastungsgesetz eine Aufwandsredu-
zierung von rund einer Milliarde Euro bringt.
Gleichwohl müssen diese Anstrengungen ver-
stärkt werden. Gute Vorschläge für weitere Ent-
lastungen liegen auf dem Tisch. Sie müssen nur
umgesetzt werden – ohne ideologische Scheu-
klappen, ministerielles Silodenken und taktische
Manöver.
Auch die wirkungsvolle Regel zur Begrenzung
neuer Kosten, die sogenannte „One-in-one-out-
Regel“, enthält noch Lücken. Europäische Vorga-
ben und einmalige Anpassungskosten werden
nicht einbezogen und sind damit offensichtliche


Defizite im System. Es ist wichtig, hier den Blick-
winkel zu ändern und die Sichtweise der Betrof-
fenen nach vorn zu rücken. Für Unternehmen
spielt es keine Rolle, ob eine bürokratische Rege-
lung aus Brüssel oder aus Berlin kommt – die Be-
lastung ist die Gleiche. Und gerade die Kosten,
die einmalig für gesetzlich veranlasste Anpassun-
gen und Umstellungen entstehen, sind häufig
diejenigen, die bei den Firmen besonders spür-
bar sind.
Seit dem Jahr 2006 verfolgt die Bundesregie-
rung einen mutigen strategischen Ansatz, um Bü-
rokratie abzubauen und gesetzliche Folgekosten
zu begrenzen. In diesen 13 Jahren sind zweifellos
Erfolge und Fortschritte erzielt worden. Deutsch-
land gehört hier international unbestritten zu
den führenden Ländern. Dennoch bleiben Defizi-
te. Gesetze sind nicht so gut, wie sie sein könn-
ten. Gesetzentwürfe werden immer häufiger mit
stark verkürzter Vorbereitung auf den Weg ge-
bracht. Binnen weniger Tage, teilweise sogar we-
niger Stunden, komplexe Regelungen sorgfältig
zu prüfen, Folgen abzuschätzen und Fehler zu
vermeiden ist praktisch unmöglich – für die Mi-
nisterien genauso wie für Länder und Verbände.
Bei allem Verständnis für politische Zwänge,
Gründlichkeit muss vor Schnelligkeit gehen.
Wenn Gesetze zu kompliziert, in ihrer Wirkung
kaum verständlich und im Vollzug nicht praxis-
tauglich sind, produziert das nicht nur unnötigen
Aufwand, sondern gefährdet das Vertrauen in
Staat und Politik.
Abhilfe kann vor allem dadurch geschaffen
werden, dass die Bundesregierung bei der Vorbe-
reitung neuer Gesetze praktische Alltagserfah-

rungen von Bürgern und Unternehmen, aber
auch der vollziehenden Behörden auf Landes-
und kommunaler Ebene tatsächlich ernst nimmt
und bewusst mit einbezieht. Dieser Erfahrungs-
schatz muss genutzt werden, und zwar vor der
Erstellung komplizierter Rechtstexte. Erst wenn
Ziel und Inhalt einer neuen Regelung klar sind
und anhand allgemein verständlicher Eckpunkte-
papiere intensiv mit Betroffenen und Vollzugs -
behörden erörtert wurden, erst dann kann ein
Gesetzestext entstehen, der weiterführt und
nachhaltigen Mehrwert bringt.
So kann sichergestellt werden, dass von der
Regierung beschlossene Gesetze auch in der Pra-
xis funktionieren. Wir brauchen Gesetze, die ver-
ständlich und anwenderfreundlich sind. Sie dür-
fen nur so viel Bürokratie verursachen, wie un-
bedingt nötig. Nur dann ist gewährleistet, dass
die Adressaten Gesetze richtig anwenden kön-
nen, nicht über Gebühr belastet werden und die
Behörden diese richtig vollziehen.
Die aktuelle wirtschaftliche Lage ist stark von
externen Faktoren bestimmt: Internationale Han-
delskonflikte, Brexit und neue Technologien stel-
len unsere Konjunktur vor große Herausforde-
rungen. Unsere Mittel, um erfolgreich gegen -
zusteuern, sind begrenzt. Wir können aber
wichtige Rahmenbedingungen verbessern und
den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken.
Mehr politische Entschlossenheit für weniger Bü-
rokratie und bessere Gesetze wären ein überzeu-
gender Anfang.

Firmen kann


geholfen werden


Bürokratieabbau wäre ein gutes


Konjunkturprogramm, meint Johannes Ludewig.


Der Autor ist Vorsitzender des Nationalen
Normenkontrollrats.

Kugler, Steffen [M]


Für Unter-


nehmen spielt


es keine


Rolle, ob eine


bürokratische


Regelung aus


Brüssel oder aus


Berlin kommt.



  
 


  
  
 
   
   
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Gastkommentar
(^48) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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