Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

GRUSSWORT 3


Sonderveröffentlichung zum Thema „THE FUTURE OF RET AIL“ | Oktober 2019 HandelsblattJournal


Rahmenbedingungen


für die Digitalisierung


des Handels schaffen


von Josef Sanktjohanser


S


eit Jahren ist der Online-Handel der Wachs-
tumstreiber des Einzelhandels in Deutsch-
land. Und immer mehr bisher rein sta-
tionäre Händler profitieren mit eigenen
Online-Shops oder dem Verkauf ihrer
Waren über Online-Marktplätze und Plattformen
davon. Doch immer noch nutzen zwei Drittel der sta-
tionären Unternehmen das Internet als Vertriebsweg
nicht. Woher kommt das?
Ein Grund ist sicher, dass es gerade für mittelstän-
dische Händler schwierig ist, die notwendigen Inves-
titionen zu stemmen. Hier ist die Politik gefordert:
Denn beispielsweise bei der Finanzierung der Ener-
giewende sind die Handelsunternehmen überpropor-
tional belastet. Hohe Preise für Strom und Energie
verhindern Investitionen in Digitalisierung. Deshalb
muss die Politik ein neues und faireres Finanzie-
rungssystem aufsetzen. Neben einer Entlastung geht
es aber auch um unbürokratischere, auf den Handel
zugeschnittene Förderprogramme.
Eine weitere Ursache für den hohen Anteil der Off-
liner im Handel ist, dass der Staat mit komplizier-
ten Regelungen und Vorgaben die Digitalisierung der
Unternehmen erschwert. Das schreckt viele davon
ab, im Internet aktiv zu werden. Nationale Gesetze
sind dabei angesichts des grenzenlosen, globalisier-
ten Online-Handels weitgehend wirkungslos – hier
ist mindestens die europäische Ebene gefordert. Mit
dem Start einer neuen EU-Kommission ist jetzt ein
guter Moment, um die Stellschrauben richtig zu stel-

gültige Vorschriften zu verfassen – gerade im Hinblick
auf eine mögliche weitere Plattformregulierung. Und
dann muss natürlich auch die Umsetzung sicherge-
stellt sein. Für Unternehmen, die ihren Sitz außerhalb
der EU haben, aber in der EU tätig sind, müssen im
Hinblick auf die Regeln und Pflichten dieselben Maß-
stäbe angewendet werden, wie für Unternehmen aus
EU-Mitgliedstaaten. Insbesondere im Bereich Daten-
schutz, Verbraucherschutz und Produktsicherheit
bestehen derzeit Standortnachteile für europäische
Unternehmen. Während die in der EU ansässigen
Händler hohe Investitionen in die Produktsicherheit
und die Umsetzung der verbraucherschützenden Vor-
schriften tätigen müssen, sparen sich Händler außer-
halb der EU das Geld oft einfach. Das darf nicht tole-
riert werden – wer hierzulande verkauft, muss sich
auch an unsere Regeln halten.
Bevor aber der klassische EU-Binnenmarkt nicht
vollendet ist, kann auch der digitale Binnenmarkt nicht
funktionieren. Für die neue EU-Kommission muss die
wirkliche Vollendung des europäischen Binnenmark-
tes eine Top-Priorität sein. Im Zentrum eines funktio-
nierenden Binnenmarktes steht die Vertragsfreiheit
als entscheidende Voraussetzung für den freien Wett-
bewerb. Bei Internet-Zahlungssystemen ist ein ange-
messener Wettbewerb zwischen möglichst vielen
Anbietern wünschenswert. Nur so kann die Marktdo-
minanz einzelner vermieden und für den Verbraucher
eine Vielfalt von kostengünstigen und komfortablen
Zahlungsmöglichkeiten sichergestellt werden.

Josef Sanktjohanser, Präsident Handelsverband Deutschland


„ Zu passenden Rahmenbedingungen


gehört zwingend ein fairer Wett-


bewerb. Es müssen gleiche Regeln für


alle Vertriebskanäle gelten.“


Die HoŸotografen GmbH Berlin


len und die Digitalisierung des Handels in Europa
einen großen Schritt voranzubringen.
Was ist konkret zu tun? Die Datenschutzvor gaben
dürfen nicht weiter verkompliziert werden. Mit der
ePrivacy-Verordnung der EU droht die Kluft zwischen
europäischen und US-Unternehmen noch größer zu
werden. Denn die strengen Vorgaben zur Kundenein-
willigung bevorzugen die globalen Internet-Giganten,
die sich die Zustimmung ihrer Nutzer pauschal bereits
mit den Geschäftsbedingungen einholen. Gerade Mit-
telständler hätten mit diesen Vorgaben schlechte Kar-
ten, sich erfolgreich zu digitalisieren. Außerdem muss
die EU-Kommission aufpassen, Innovationen nicht
durch Überregulierung abzuwürgen. Das droht bei-
spielsweise bei der Überprüfung von Algorithmen.
Diese ermöglichen eine Anpassung des Produktan-
gebots an die Wünsche der Kunden oder optimie-
ren Absatzprognosen. Eine immer wieder diskutierte
behördliche Überprüfung oder gar ein Zwang zur
Offenlegung von Algorithmen würde einen übermä-
ßig starken Eingriff in die Geschäftsstrategie bedeuten.
Zu passenden Rahmenbedingungen für die Digi-
talisierung des Handels gehört aber zwingend auch
ein fairer Wettbewerb. Es müssen gleiche Regeln für
alle Vertriebskanäle gelten – egal ob stationär, online,
Multichannel oder Online-Plattformen. Gesetze müs-
sen deshalb technologieoffen formuliert sein und
gesetzliche Pflichten sollten ausgewogen zwischen
den diversen Akteuren oder Vertriebsformen verteilt
werden. Die Herausforderung liegt darin, allgemein-
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