Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
Till Hoppe, Moritz Koch, Dietmar Neuerer
Brüssel, Berlin

D


as deutsche Kartellrecht stammt aus
der Zeit der Schwerindustrie. Aus
den Schornsteinen der Republik
quollen Ruß und Schwefel, an den
Förderbändern der Fabriken floss
der Schweiß, als der Bundestag 1959 das „Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ erließ. Die
Regeln, die es der Marktwirtschaft setzte, gelten
heute als dringend reformbedürftig. Erdöl und
Kohle waren die Rohstoffe, die das deutsche Wirt-
schaftswunder befeuerten. Der Rohstoff der Zu-
kunft sind Daten. Doch zur Datenökonomie hat das
Kartellrecht wenig zu sagen.
Diese Regulierungslücke haben Onlineplattfor-
men, vor allem der US-Konzern Amazon, genutzt,
um ihre Marktmacht kontinuierlich auszubauen.
Amazon kontrolliert inzwischen fast die Hälfte aller
deutschen Einzelhandelsumsätze im Internet (sie-
he Grafik). Und dieses Wachstum geht auf Kosten
kleiner und mittlerer Unternehmen. Denn Amazon
agiert nicht nur als Betreiber eines virtuellen
Marktplatzes, der anderen Unternehmen zu neuen
Absatzmöglichkeiten verhilft. Der Konzern tritt
auch als eigener Anbieter von Gütern und Diensten
auf – und drängt Konkurrenten aus dem Markt. Da-
für nutzt Amazon die Gesetze des Datenkapitalis-
mus und seinen Größenvorteil: Aufgrund seiner
Marktmacht sammelt der Konzern mehr Daten als
seine Wettbewerber, nutzt diese, um seine Angebo-
te noch zielgenauer anzupreisen – und baut damit
seine Stellung noch weiter aus. Unternehmen, die
Amazon als Plattform nutzen, gewinnen zwar an
Reichweite, sind aber nicht mehr Herr ihrer Daten.

Kleine Firmen machen sich abhängig
Der Fall Amazon ist schon länger Gegenstand poli-
tischer Debatten. Jetzt begehrt auch der deutsche
Mittelstand dagegen auf. Der deutsche Mittelstands-
verbund ZGV hatte beim Institut der deutschen
Wirtschaft (IW) eine Studie in Auftrag gegeben, die
zeigt, wie die Verlagerung des Einzelhandels ins In-
ternet den Wettbewerb verzerrt. Die Studie liegt
dem Handelsblatt vor. „Kleine und mittlere Unter-
nehmen geraten in ein immer größeres Abhängig-
keitsverhältnis zu den großen Plattformen, ohne
von den auf diesen generierten Daten in gleichem
Maße profitieren zu können“, heißt es. Es sei drin-
gend nötig, „die regulatorischen Rahmenbedingun-
gen anzupassen“, um mittelständische Anbieter „in
die Lage zu versetzen, in einen gleichberechtigten
Wettbewerb mit großen Plattformen einzutreten“.
Die Studie schlägt mehrere Optionen vor, um
gleiche Wettbewerbsbedingungen im Onlinehandel
zu schaffen. Sie reichen von Modellen, die Amazon
zwingen würden, seine Daten mit anderen Anbie-
tern zu teilen, bis zur Entflechtung und sogar zur
Zerschlagung des Konzerns. Die IW-Experten ge-
ben allerdings zu bedenken, dass die Zerschlagung
den „größtmöglichen Eingriff “ darstelle und daher
„mit Vorsicht zu verwenden“ sei.
Der Mittelstandsverbund, der etwa 230 000 mit-
telständische Unternehmen vertritt, darunter
Gruppen und Genossenschaften wie Intersport
und Hagebau, stellt klar, dass ihm die Aufspaltung
von Amazon zu weit ginge. „Wir treten nicht für die
Zerschlagung von Amazon ein“, sagte Verbands-
chef Ludwig Veltmann dem Handelsblatt. „Aber
wir hätten gern ein ebenes Spielfeld: dass die Da-
ten, die Amazon nutzt, auch von anderen genutzt
werden können, die ja zur Entstehung dieser Daten
aktiv beigetragen haben.“
In der Politik gibt es indes durchaus Sympathien
für eine härtere Gangart. „Angesichts des noch im-
mer rasanten Wachstums des Unternehmens sollte
man das Instrument der Zerschlagung als realisti-
sches Szenario betrachten, auch wenn es nicht der
erste Schritt sein kann“, sagte der digitalpolitische
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Jens Zim-
mermann, dem Handelsblatt. Der Abgeordnete
fürchtet auf lange Sicht negative Effekte auch für
Verbraucher. Daher sei es wichtig, gegen Wettbe-
werbsverzerrungen durch Amazon vorzugehen.

Angriff


auf Amazon


Mittelstand und Ökonomen warnen vor der Übermacht des


US-Anbieters. Als Konsequenz bringen sie die Entflechtung des


Konzerns ins Gespräch – und erhalten Unterstützung aus der Politik.


Amazon-Lager:
Neben dem Versand -
riesen ist kaum Platz
für Konkurrenz.

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Wirtschaft


& Politik


(^6) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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