Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
Jan Mallien, Frank Specht
Frankfurt, Berlin

A


ls gäbe es in der
schwarz-roten Regie-
rung nicht schon genug
Streit über die Renten-
politik. An diesem Mitt-
woch will die Koalitionsarbeitsgrup-
pe erneut zusammenkommen, um
endlich den leidigen Zwist über die
Grundrente abzuräumen. Und nun
kommt die Bundesbank in ihrem ak-
tuellen Monatsbericht mit einem Vor-
stoß, der ebenfalls den Koalitionsfrie-
den stören könnte.
Die Frankfurter Währungshüter
schlagen vor, das Renteneintrittsalter
künftig an die Lebenserwartung zu
koppeln. „Künftig setzt die demogra-
fische Entwicklung die Rentenfinan-
zen unter Druck“, heißt es dazu in
dem Bericht. Die Lebenserwartung
steigt, und die Babyboomer gehen ab
Mitte der 2020er-Jahre in den Ruhe-
stand. Um die Lasten aufzufangen,
sei mit einem steigenden Rentenalter,
mit höheren Beitragssätzen, einem
höheren Bundeszuschuss und einem
geringeren Versorgungsniveau zu
rechnen. Die Analyse der Bundes-
bank reicht bis zum Jahr 2070 und
damit deutlich weiter als die offiziel-
len Vorausberechnungen für die Ren-
te, die 2032 enden.
Die Bundesbank-Ökonomen analy-
sieren, wie sich die wachsenden Be-
lastungen für die Rentenversicherung
auffangen lassen. Als Stellschrauben
gibt es neben der Höhe des Beitrags,
der derzeit bei 18,6 Prozent liegt, die
Bundeszuschüsse aus Steuermitteln,
das Rentenalter und das Versor-
gungsniveau. Es liegt aktuell bei etwa
48 Prozent. Laut den von der

schwarz-roten Koalition eingezoge-
nen Haltelinien darf das Rentenni-
veau bis 2025 nicht unter 48 Prozent
sinken und der Beitragssatz bis dahin
nicht über 20 Prozent steigen.
Die Bundesbank kommt zu dem
Fazit, „dass sich die demografischen
Lasten kaum überzeugend über ein-
zelne Stellgrößen auffangen lassen“.
Würde beispielsweise das Versor-
gungsniveau bei 48 Prozent und das
Rentenalter bei 67 Jahren bleiben,
müsste der Beitragssatz bis 2070 auf
31 Prozent steigen. Außerdem wären
deutlich höhere Zuschüsse aus dem
Bundeshaushalt nötig.
Die Bundesbank empfiehlt daher,
die Lasten breiter zu verteilen und
das Rentenalter durch eine Indexie-
rung mit der Lebenserwartung zu
verknüpfen. Die Logik: Wenn die
Menschen älter werden und länger
Rente beziehen, müssen sie auch län-
ger arbeiten. Konkret schlägt die
Bundesbank vor, das Rentenalter so
anzupassen, dass das Verhältnis zwi-
schen Rentenbezugs- und Beitrags-
jahren stabil bleibt. Die höhere Le-
benserwartung führt dann dazu,
dass die Menschen länger arbeiten,
aber auch länger Rente beziehen.
Nach diesem Vorschlag würde das
Rentenalter bis zum Jahr 2070 auf 69
Jahre und vier Monate steigen – also
ab 2032 jedes Jahr durchschnittlich
um einen dreiviertel Monat. Auch in
diesem Szenario würden der Bei-
tragssatz und die Bundeszuschüsse
bis etwa 2040 relativ stark steigen
das Versorgungsniveau würde sin-
ken. „Der Anpassungsbedarf wäre
aber jeweils deutlich geringer als oh-
ne indexiertes Rentenalter“, schreibt
die Bundesbank. Die Anpassung des
Rentenalters würde zudem über eine

höhere Erwerbstätigkeit das gesamt-
wirtschaftliche Potenzial stärken und
damit Steuern und Sozialbeiträge.
Dass Beschäftigte in körperlich an-
strengenden Berufen nicht unbe-
dingt bis 69 durchalten, erkennt
auch die Bundesbank an, sieht hier
aber kein grundsätzliches Hindernis.
Es lasse sich ein angemessener
Schutz durch die Erwerbsminde-
rungsrente organisieren, die zuletzt
spürbar ausgeweitet worden ist.
Die stellvertretende Vorsitzende
der SPD-Bundestagsfraktion, Katja
Mast, übte Kritik an dem Vorstoß:
„Ein höheres Renteneintrittsalter hal-
te ich für falsch“, sagte sie dem Han-
delsblatt. Die nicht gewollte Umver-
teilung in der Rente müsse Schritt für
Schritt behoben werden. „Denn gera-
de Menschen mit geringem Einkom-
men leben deutlich kürzer und profi-
tieren dadurch proportional weniger
von ihren eingezahlten Beiträgen als
Besserverdienende.“
Es sei Aufgabe der Rentenkommis-
sion, Vorschläge zu unterbreiten, wie
die Rente demografie- und zukunfts-
fest weiterentwickelt werden könnte,
sagte der Vorsitzende der Arbeits-
gruppe Arbeit und Soziales der Uni-
onsfraktion, Peter Weiß (CDU). „Die
Kopplung des Renteneintrittsalters
an die Lebenserwartung ist sicherlich
eine erwägenswerte Option.“ Aller-
dings werde man anhand der Berich-
te der Bundesregierung zur Rente
mit 67 prüfen müssen, was für die
Menschen zumutbar sei. „Ich bin
sehr dafür, erst einmal abzuwarten,
wie die aktuelle schrittweise Anhe-
bung des Renteneintrittsalters wirkt.“
2070 sei noch sehr weit weg.


Kommentar, Bericht Seiten 14, 32



Rente


Rütteln am Tabu


Die Bundesbank bringt ein höheres Rentenalter ins Spiel – und


erntet damit prompt Kritik aus der Großen Koalition.


Schüler in der Berufsvorberei-
tung: Künftige Arbeitnehmer
werden länger arbeiten müssen,
sagt die Bundesbank.

Michael Staudt / VISUM


Gesundheitspolitik


Kampf um


den Patienten


der Zukunft


Gregor Waschinski Berlin


D


ie Versicherten der gesetzli-
chen Krankenversicherung
(GKV) genießen im Vergleich
zu Patienten in vielen anderen euro-
päischen Ländern ein großes Privi-
leg: Grundsätzlich können sie den
Arzt selbst wählen, bei dem sie sich
in Behandlung begeben. Im digitali-
sierten Gesundheitswesen könnte die
freie Arztwahl aber zunehmend in-
frage gestellt werden. Einer Studie
der Unternehmensberatung Roland
Berger zufolge werden sich die Rol-
len der Gesundheitsakteure durch
die Digitalisierung massiv verändern.
Fast 80 Prozent der befragten Exper-
ten erwarten, dass Krankenkassen ih-
re Versicherten in Zukunft digital so
steuern werden, dass diese vor allem
die Dienste bevorzugter Partner in ih-
rem Netzwerk nutzen werden.
Gesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) öffnet im Digitale-Versorgung-
Gesetz die Tür für diese Entwicklung,
zumindest ein bisschen. Krankenkas-
sen sollen die Möglichkeit erhalten,
den Versicherten ein „umfassendes
individualisiertes Beratungsangebot“
für ihren Versorgungsbedarf zu un-
terbreiten. „Ziel ist allein eine Verbes-
serung der Versorgung und die För-
derung der Verbreitung von Versor-
gungsinnovationen wie etwa von
digitalen Angeboten“, steht im Ge-
setzentwurf, der aktuell im Bundes-
tag beraten wird. „Die ärztliche The-
rapiefreiheit und die Wahlrechte der
Versicherten bleiben unberührt.“
Die Ärzteschaft sieht aber genau
diese Wahlfreiheit in Gefahr. Der Pas-
sus wird in der Kassenärztlichen Bun-
desvereinigung (KBV) mit einem „tro-
janischen Pferd“ verglichen. Wenn
die Krankenversicherung digitale Ver-
sorgungsangebote ohne Einbezie-
hung der behandelnden Ärzte ma-
chen könne, drohe die Rolle der Kas-
senärzte ausgehebelt zu werden.
Für die Studie „Future of Health“
befragte Roland Berger 400 Vertreter
von Patienten und Ärzten, Führungs-
kräfte bei Krankenkassen sowie aus
dem Klinikbereich und der Pharma-
industrie. Die Experten sollten eine
Prognose abgeben, wie sich das Ge-
sundheitssystem bis 2025 entwickelt.
Fast die Hälfte glaubt, dass Versiche-
rungen digitale Diagnosen und The-
rapieunterstützungen anbieten und
Versicherte diese Angebote nutzen
werden. „Im Zeitalter der Digitalisie-
rung wird jeder Marktteilnehmer ver-
suchen, die Patienten entlang einer
Versorgungskette durch das Gesund-
heitssystem zu steuern“, so Karsten
Neumann von Roland Berger.
Nicht nur die Krankenkassen hof-
fen auf den Schlüssel für die digitale
Versorgungslandschaft. Auch große
Technologiekonzerne könnten bald
mit Angeboten zur medizinischen
Versorgung präsent sein. Sechs von
zehn Experten gehen davon aus, dass
Amazon, Apple oder Google in weni-
gen Jahren zu etablierten Kräften auf
dem Gesundheitsmarkt zählen wer-
den. „Das Auftreten der Tech-Konzer-
ne im Gesundheitsbereich bedeutet,
dass die etablierten Player zum ers-
ten Mal in ihrer Rolle bedroht sind“,
sagt Co-Studienautor Ulrich Kleipaß.
„Bislang hat niemand Ärzten oder
Krankenkassen ihre angestammte
Rolle streitig gemacht.“


Die Anpassung


des


gesetzlichen


Rentenalters


würde das


gesamt -


wirtschaft -


liche


Potenzial


stärken.


Monatsbericht der
Bundesbank

Wirtschaft & Politik


(^8) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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